Bauernzeitung: Die Corona-Krise ist in ihrer wirtschaftlichen Dimension kaum absehbar. Auch EU steht einmal mehr am Prüfstand. Was hat man in Brüssel bisher gut gemacht?
Bernhuber: Im Rahmen der Kompetenzen der EU einiges, etwa die gemeinsame Rückholaktionen Tausender Europäer aus aller Welt. Oder, dass man nun gemeinsam für alle EU-Bürger an einem Impfstoff forscht. Auch die meisten Grenzen wurden wieder gemeinsam geöffnet.
Was wurde anfangs vielleicht auch unterschätzt?
Weber: Der ganze Kontinent wurden mit voller Wucht getroffen. Wir alle waren geschockt von den Bildern aus Bergamo, wo Ärzte bei der Notaufnahme über Leben und Tod entscheiden mussten. Aber mittlerweile haben wir das Virus gut unter Kontrolle. Die staatlichen Maßnahmen haben gewirkt, worauf wir bei aller Kritik stolz sein können. Wir alle wurden auf die Probe gestellt. Und wir haben zusammengehalten, überall wurden Leben gerettet, das ist doch am wichtigsten. Aber jetzt werden wir in der Gesundheitspolitik über europäische Kompetenzen reden müssen. Es fehlt etwa an gemeinsamen Statistiken und damit Datengrundlagen. Das müssen wir rasch ändern, um aus der Krise zu lernen.
Milliarden-Hilfspakete wurden geschnürt. Diese werden noch die nächsten Generationen belasten. Stimmen Sie solche Finanzzahlen nachdenklich?
Weber: Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Ich fühle mich nicht wohl dabei, wenn es um so eine massive Verschuldung geht. Aber wir haben aktuell keine Alternative. Wie sonst sollen wir die Krise abfedern? Jetzt nicht zu investieren, hieße ein verlorenes Jahrzehnt für Europas Wirtschaft. Aber das können wir uns schlicht nicht leisten. Anders formuliert: Ich möchte nicht, dass China global betrachtet der große Gewinner der Corona-Krise ist und die EU der große Verlierer. Aber als Christdemokraten und bürgerliche Politiker sagen wir auch dazu: es braucht auch einen ordentlichen Rückzahlungsplan. Ich möchte schon heute vereinbart wissen, wer das Geld wie zurückzahlen wird. Dann tragen wir die Entscheidungen der Regierungschefs auch im EU-Parlament mit.
Corona überdeckt die Probleme des Klimawandels. Ist es nicht an der Zeit für eine massive Ökologisierung der Wirtschaft? Wie weit darf diese gehen?
Bernhuber: Wir hatten bis zum Ausbruch der Krise einen sehr straffen Zeitplan der EU-Kommission, mit ambitionierten Zielen wie minus 50 Prozent Treibhausgase bis 2030, Klimaneutralität bis 2050 oder im Agrarbereich die Farm to Fork- und Biodiversitätsstrategien. Nun geht es um Wiederaufbau. Die Ökologisierung muss dabei eine Rolle spielen, aber mit Grenzen. Der notwendige Energiewandel darf keine Renaissance der Atomenergie bedeuten. Klar ist: Die Wirtschaft muss in den Regionen und in Verbindung mit den Klimazielen wieder neue Arbeitsplätze schaffen. Diese Ziele dürfen aber die Wirtschaft nicht schwächen. Wenn wir die Auflagen zu hoch schrauben, etwa für eines der klimafreundlichsten Stahlwerke der Welt, die VOEST Alpine in Linz, wandert die Produktion ab, nach China oder Südamerika, wo noch veraltete Technologien eingesetzt werden. All das gilt auch für die Landwirtschaft.
Welche großen Klimapolitik-Ziele schweben Ihnen vor? Auch eine europaweite CO2-Steuer?
Weber: Ich bin stolz, weil wir beim Weltklimaschutzabkommen in Paris voranmarschiert sind. Das waren wir Europäer, nicht Obama, Putin oder die Chinesen. Damit zeigen wir, dass man Wirtschaft, Wohlstand und Umweltschutz gemeinsam voranbringen kann. Und wir alle wollen doch einen klimaneutralen Kontinent. Die Landwirtschaft nimmt dabei eine wichtige Rolle ein, weil sie nämlich als Einzige das CO2 aus der Atmosphäre bindet, also zurückführt. Darauf können unsere Bauern und Forstwirte stolz sein. Wir müssen darauf auch in der Diskussion um die Landwirtschaft und den ländlichen Raum selbstbewusst hinweisen. Unsere Landwirtschaft trägt damit aktiv gegen den Klimawandel bei. Und ja, Steuern sind eine Option, wie auch Emissionshandel mit Zertifikaten für Verkehr bis Wohnen, weil das eine marktwirtschaftliche Methode ist. Wir schreiben also niemandem vor, wie viel er emittieren darf, sondern regeln durch den Zertifikatkauf, wo es gemäß Markt am effizientesten ist, einzusparen. Und die Bauern werden davon profitieren, weil sie das CO2 binden.
Bernhuber: Ich sehe ebenfalls gute Chancen für CO2-Grenzsteuern auf Emissionen im Zusammenhang mit fairer Produktion unter hohen EU-Standards. Wenn Drittstaaten in unseren Binnenmarkt importieren, muss dies verursachergerecht besteuert werden. Als Technologievorreiter haben wir zudem die Chance, unsere Erzeugnisse in die ganze Welt zu exportieren.
Also stimmt die EU-Green Deal-Politik, auch wenn die kritischen Stimmen gerade konservativer Bauernvertreter in Sachen Farm to Fork-Strategie doch lauter werden?
Weber: Das Ziel der Kommission, unsere Wirtschaftsweise zu ökologisieren, wird von allen unterstützt. Aber gerade der Bauernstand braucht in Sachen Nachhaltigkeit von niemandem Lektionen. Landwirte denken seit jeher in Generationen. Aber sie wollen fachlich überzeugt werden. Es muss für sie Sinn machen. Leider gibt es manchmal Vorschläge, die allein von Ideologien getrieben sind und wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. Daher brauchen wir junge Kollegen in unserer EVP-Fraktion wie Alexander Bernhuber, mit frischen, sachlichen, vernünftigen
Ideen für eine ökologische, praktikable Arbeitsweise. Und das in allen Wirtschaftsbereichen.
Corona hat vielen die Nachteile der Globalisierung vor Augen geführt, etwa medizinische Abhängigkeiten durch ausgelagerte Produktion nach China. Die Landwirte sind unter Druck wegen Billig-Importen, Stichwort Mercosur. Zeit also für striktere Handelsverträge?
Weber: Corona hat deutlich gemacht, wovor wir uns schützen und welche Gewichtungen wir neu vornehmen müssen, um uns in Europa etwa wieder selbst mit Medizinprodukten versorgen zu können. Und zu den Kernbereichen unserer Grundversorgung gehört die Landwirtschaft. Wir dürfen bei der Versorgung mit gesunder Nahrung nicht von anderen Kontinenten abhängig werden. Das ist vielleicht die essenziellste Frage überhaupt. Wenn wir alle Märkte liberalisieren, sind wir etwa gegenüber Rohrzucker aus Südamerika einfach nicht mehr wettbewerbsfähig. So billig wie andernorts können wir die meisten Agrarprodukte in Europa nie erzeugen. Zu definieren, was alles existenziell für die Versorgung unserer Gesellschaft ist, steht uns aber erst bevor. Die EVP steht zum Welthandel, weil wir vom Export, vom Handel leben. Aber wir brauchen eine neue Kalibrierung, in welchen Bereichen Freihandel auch Sinn macht, ohne unsere Souveränität zu gefährden.
Warum braucht es generell die EU, um die Regionen zu stärken?
Weber: Weil technisch gesehen viele Gelder gerade für den ländlichen Raum aus Europa kommen. Und es geht um Emotionen, Identität und Heimat. Regionen sind der Ort, wo man all das spürt, auch Zusammengehörigkeit. Wenn es gelingt, diese Verwurzelung als Brücke mit einem starken Europa zu verbinden, das in der Welt China, Amerika oder Russland Paroli bietet, ist das ein starkes Fundament. Ich sehe da also keinen Widerspruch.
Bernhuber: Ich kenne nichts anderes als die EU. Durch Corona habe ich erstmals geschlossene Ländergrenzen und Reiseeinschränkungen innerhalb Europas erlebt. Das Denken in Regionen und nachbarschaftliche Zusammenarbeit sind doch für alle ein Vorteil. Außerdem sind die Förderungen für den Erhalt des ländlichen Raums wesentlich.
Sie fordern von der EU provokant „mehr Hausverstand“ ein. Wo konkret?
Bernhuber: Wir müssen im Großen größer und im Kleinen kleiner werden. Also Probleme dort lösen, wo sie anfallen und Probleme, die eigentlich gar keine sind, nicht mit EU-Verordnungen regeln, wie zum Beispiel den Bräunungsgrad unserer Pommes. Zusammenarbeit im Großen braucht es gerade bei Migration, Klima oder beim Brexit. Und dafür muss der EU-Vertrag überarbeitet werden. Wichtig wäre allem voran die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, damit wichtige Entscheidungen rascher getroffen werden können.
Sie waren der Wunschkandidat vieler als EU-Kommissionspräsident. Das ist heute Ursula von der Leyen. Hand aufs Herz: Neiden Sie ihr derzeit diesen Posten?
Weber: Ich habe für dieses Amt kandidiert, wie es ausgegangen ist, wissen wir. Am Ende hat jeder seine neue Rolle. Von der Leyen und ich haben gemeinsame bürgerliche Wertvorstellungen. Die wollen wir gemeinsam umsetzen. Da gehört auch das dazu, was Alexander gerade angesprochen hat: eine größere Reform des EU-Vertrages, weil wir an Grenzen stoßen. Diese Grundsatzdiskussion ist dringend notwendig. Aus manchem soll sich Brüssel heraushalten, anderswo muss die EU gestärkt werden. Die EU muss zur gemeinsamen Stimme in der Welt werden, etwa gegenüber China. Derzeit machen viele EU-Ländergruppen unkoordiniert ihr Ding. Und der Kontinent braucht mehr Steuergerechtigkeit. Dass Amazon der große Gewinner der Corona-Krise ist, weil durch das Ausnutzen von Schlupflöchern Gewinne hin und her verschoben werden, wo die geringsten Steuern dafür anfallen, ist ein Skandal. Für diese Verschwendung von 70 Milliarden Euro fehlt den Menschen in der EU das Verständnis.
Was sollte man aus der Corona-Krise auf jeden Fall lernen?
Weber: Dass wir uns als Gesellschaft besser vorbereiten. Um künftig agieren zu können, statt nur zu reagieren. Aber das erfordert die Bereitschaft zu Veränderung.
Die Personen
Manfred Weber (47) ist ein CSU-Politiker aus in Wildenberg
bei Kehlheim in Niederbayern. Der Ingenieur der Physikalischen Technik ist seit 2014 Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament, dem er seit 2004 angehört.
DI Alex Bernhuber (28), Rinderbauer aus Kilb, ist seit 2019 Bauernbund-Abgeordneter im EU-Parlament mit Schwerpunkt auf Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Kultur und Bildung sowie Petitionen.
Interview: Bernhard Weber