Tiroler Bauernzeitung: Welche Lehren kann unsere Gesellschaft bereits jetzt aus der Corona-Krise ziehen?
RAGGL: Gerade in der Krise wird ersichtlich, welchen enormen Stellenwert Solidarität in unserer Gesellschaft hat. Ich erlebe in den unterschiedlichsten Bereichen eine sehr große Bereitschaft der Bevölkerung, Verantwortung für Schwächere zu übernehmen und sich für Verletzlichere einzusetzen. Das beginnt bei der Befolgung der vorgegebenen Maßnahmen, reicht hin bis zu Versorgungsaktionen beispielsweise durch Ortsgruppen der Jungbauernschaft/Landjugend und endet beim teilweise übermenschlichen Einsatz in der Pflege und im medizinischen Bereich. Etwas, das mir bei den täglichen Nachrichtenmeldungen ins Gedächtnis gerufen wird, ist die Tatsache, dass wir Gott sei Dank ein sehr starkes Gesundheitssystem haben. Ich bin sehr froh, in einem Land zu wohnen, wo dieser Stellenwert bereits vor Jahrzehnten erkannt wurde.
TBZ: Welchen Stellenwert haben unsere heimischen Bauern in der Krise?
RAGGL: Man konnte sehr gut beobachten, wie sich bald nach den ersten Ausgangsbeschränkungsmaßnahmen besonders der Handel mit viel Werbemitteln Gehör in der breiten Öffentlichkeit verschafft hat, um seine Systemrelevanz intensiv zu bewerben. Die Menschen haben aber sehr wohl auch ganz ohne Inseratenkampagne, die wir auch gar nicht finanzieren könnten, erkannt, dass es vor allem die heimischen Bauern sind, die in Krisensituationen für die Versorgung mit Lebensmitteln sorgen. Da haben wir alle gemerkt, dass es eine starke Landwirtschaft und Wirtschaft vor Ort braucht, die uns in der Krise unabhängig von geöffneten oder geschlossenen Grenzen mit dem versorgt, was wir zum Leben brauchen. Unsere Bauern stellen unsere Versorgung sicher, sind also Schlüsselkräfte einer systemerhaltenden Infrastruktur. Ohne unsere Bauern gibt es keine Lebensmittel – diese Rechnung ist recht simpel. Und was uns die Krise bereits jetzt zeigt: Unsere heimische Landwirtschaft ist sehr viel mehr wert als der billigste Preis in den Flugblättern diverser Handelskonzerne.
TBZ: Hat die Pandemie auch Auswirkungen auf die EU-Agrarpolitik?
RAGGL: Es ist jetzt sicherlich zu früh, bereits Prognosen in diese Richtung abzugeben. Ich gehe aber davon aus, dass diverse agrarpolitische Debatten, wie zum Beispiel die Einsparungen bei den EU-Agrargeldern, also die Einsparungen auf dem Rücken unserer Bauern beim EU-Agrarbudget, nun endgültig der Geschichte angehören, denn genau diese Debatten gefährden im Krisenfall unsere Versorgungssicherheit. Ebenso wie auf Landes- und Bundesebene muss sich auch die EU ihrer Stärken bewusst werden. Deswegen hoffe ich inständig, dass auch die Debatten um die Liberalsisierung der Märkte nun endlich verstummen und statt Massenware aus dem Ausland auf EU-Ware gesetzt wird.
TBZ: Wird es wegen Corona ein Umdenken in der Gesellschaft geben?
RAGGL: Die Menschen in unserem Land haben das schon lange gemacht, das merkt man in den persönlichen Gesprächen und den Interviews in diversen Medien. Ich glaube, dass Nachhaltigkeit und Regionalität nicht nur beim Lebensmittelkonsum, sondern auch bei der persönlichen Lebensausrichtung und Urlaubsplanung wichtiger werden. Darüber hinaus müssen wir aber umdenken, was die Produktion systemrelevanter Güter im Inland angeht. Medizin, Schutzmasken und -kleidung und Agrarerzeugnisse dürfen nicht aus der Hand gegeben werden. Da dürfen wir uns nicht vom Ausland abhängig machen, weil uns das sehr verletzlich macht. Das in der Krisenzeit deutlich gestiegene Bekenntnis der Konsumenten zur heimischen Landwirtschaft muss auch nach Ende der Krise bewahrt werden. Damit der Kunde nicht nur am Bauernmarkt, sondern auch im Supermarkt und in der Gastronomie bewusst auf regionale Produkte zurückgreifen kann, braucht es zukünftig eine klare, einfache und verständliche Herkunftskennzeichnung der Lebensmittel, auch in verarbeiteter Form.
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