Heißes Eisen EU-Mercosur-Pakt: Vernichtendes Urteil über die Folgen

Die Europäische Kommission hat ihre bereits lang erwartete Folgenabschätzung zum Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten vorgelegt – und erhielt dafür scharfe Kritik von zahlreichen Ökonomen auf beiden Seiten des Atlantiks, die dem Bericht ein ausnehmend schlechtes Zeugnis ausstellen.

Südamerikanische Rinderfarmer und große Schlachthöfe wollen vor allem Steaks in rauen Mengen nach Europa verschiffen. FOTO: carolaraujo - stock.adobe.com

Der Bericht über die von der renommierten „London School of Economics“ (LSE), einer staatlichen Universität für Sozial-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften, erstellte Folgenabschätzung bis 2032 wurde laut Agra-Europe von der Generaldirektion Handel (GD Trade) im Internet veröffentlicht. Die Abhandlung basiert grundsätzlich auf zwei Szenarien, einem konservativen und einem ambitionierten Modell sowie sektorbezogenen Analysen. Die BauernZeitung berichtete bereits im Vorfeld der Veröffentlichung darüber.
Unter konservativen Bedingungen würde das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der EU um zusätzliche 10,9 Milliarden Euro oder 0,1 % und im Mercosur-Raum um 7,4 Mrd. Euro oder 0,3 % steigen. Die ambitionierte Betrachtung sagt im gleichen Zeitraum einen BIP-Zuwachs von 15 Mrd. Euro für die Mitgliedstaaten und von 11,4 Mrd. Euro für die vier südamerikanischen Mercosur-Länder (Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay) voraus. Die Gesamtexporte der EU sollen durch das Abkommen um 0,4 % bis 0,6 % zulegen, die Importe aus aller Welt um 0,9 % bis 1,1 %.
Die Rindfleischlieferungen aus dem Mercosur nach Europa würden allerdings erheblich stärker wachsen, und zwar um 30 % oder sogar 64 %. Zugleich soll die betreffende Erzeugung in der EU um 0,7 % oder gar 1,2 % schrumpfen. Erheblich profitieren würden dagegen die europäischen Exporte von Milchprodukten gen Südame-
rika aufgrund der Senkung der hohen Importzölle der Mercosur-Länder. In der konservativen Berechnung wird von einem Plus um 91 % ausgegangen; im anderen Fall sind es nochmal 30 Prozent mehr (121 %). Ausgehend von niedrigerem Niveau könnten die Milchprodukte-Lieferungen aus Südamerika um 18 % oder sogar 165 % zulegen.
Weniger eindeutig und im Grundsatz pessimistisch sind die Vorhersagen für Zucker und Ethanol. Hier hätten die Mercosur-Staaten Wettbewerbsvorteile, ihre betreffenden Importe in die EU nach dem Abbau der Zölle würden zunehmen.

Druck auf Rindfleisch-Erzeuger
Die jährlichen Rindfleischimporte aus dem Mercosur in die EU könnten laut der Folgenabschätzung um etwa 60.000 t oder sogar bis zu 128.000 t zunehmen. Da dieses Exportfleisch üblicherweise eher dem oberen Ende des Qualitätsspektrums zuzuordnen sei, würden sich die Auswirkungen somit eher auf diese Marktsegmente konzentrieren. ,,Wahrscheinlich“ sei laut den Experten der LSE indes, dass die Rindfleischimporte unter dem Strich weniger stark als erwartet ausgeweitet werden. Profitieren würde vornehmlich die derzeit zum vollen Zollsatz importierte Ware, heißt es.

Verarbeiter profitieren, nicht aber deren Beschäftigte
Dazu kämen die sozialen Auswirkungen des Abkommens – konkret etwa der Rückgang der Beschäftigung in Schlachthöfen und bei Fleischverarbeitern um 0,7 % oder bis zu 1,3 %. Die Beschäftigten der Molkereien in Europa würden dagegen laut Einschätzung der LSE durchaus vom Freihandel mit den Mercosur-Staaten profitieren – anders als jene in der Zuckerwirtschaft. Hier wird prognostiziert, dass die Beschäftigung in der EU-Zuckerindustrie um 0,7 % oder 1 % schrumpfen wird. Weil diese jedoch vornehmlich Rohrzucker für die Raffinierung importiert, werde in diesem Segment vermutlich ein Aufschwung entstehen, so die LSE. Profitieren sollen auch die Abnehmer der Zuckerhersteller vor günstiger werdendem Rohstoff. Für Ethanol wurde keine Vorhersage getroffen. Durch den Marktzugang für Brasiliens Biosprit-Multis wird jedoch mit Druck auf Europas Hersteller gerechnet – wie beim Zucker soll auch hier die weiterverarbeitende Industrie profitieren.

Weit mehr Handel mit Wein und Destillaten
Die Getränkeausfuhren der EU in die Mercosur-Staaten sollen gemäß der Abschätzung um 36 % bis 38 % steigen. Der Zuwachs werde sich hauptsächlich auf Wein und Spirituosen konzentrieren, basierend auf den Zollsenkungen. Die Südamerikaner sollen ihre Exporte um bis zu ein Drittel (28 % bis 35 %) steigern.
Was die Industriebranchen ohne Verbindung zur Landwirtschaft betrifft, so geht die LSE-Analyse von einer Steigerung der europäischen Maschinenexporte in den Mercosur um 78 % oder um 100 % aus; jene von elektronischen Geräten sollen zugleich um 109 % oder 149 % zulegen. Erhebliches Wachstum wird für auch für den Handel mit Fahrzeugen und Fahrzeugteilen vorausgesagt. Die Exporte der EU-Automobilindustrie gen Südamerika sollen sich nahezu verdoppeln, nämlich um 95 % bis 114 %. Die Produktion der Branche soll in Europa um 0,5 % oder 0,6 % ausgeweitet werden und auf der anderen Seite des Atlantiks schrumpfen.

GD Trade: „Unterm Strich wird der Agrarbereich profitieren“
Konkret geht die Modellierung der LSE für den Mercosur-Block im konservativen Szenario von einer Beseitigung der Zölle bei 90 % der Industrieprodukte und 80 % der Agrarprodukte aus. In der ambitionierteren Variante werden die Zölle zur Gänze abgebaut. Die EU beseitigt in beiden Szenarien die Zölle auf alle Industrieerzeugnisse und senkt die Zölle bei Reis, Zucker und Fleisch um 15 % oder auch 30 % Für Getreide- und Milchimporte werden die Zölle für Lieferungen in die EU für die Modellierung der Folgen um 15 % oder überhaupt völlig gekürzt. In der Generaldirektion Handel ist man jedenfalls davon überzeugt, dass die Agrarwirtschaft der Union unter dem Strich von dem Freihandelsabkommen profitieren werde. Der Abbau von außertariflichen Handelshindernissen und die Anerkennung der geschützten Herkunftskennzeichnungen werde die Agrar-und Lebensmittelexporte deutlich ankurbeln.

Regenwaldabholzung? Für die EU-Kommission kein Problem
Keine Bedenken hat die Generaldirektion übrigens hinsichtlich der – fortschreitenden – Entwaldung. Der Bericht zeige, dass Auswirkungen auf die Abholzung der brasilianischen Regenwälder „durch geeignete politische Rahmenbedingungen, deren Umsetzung und durch marktbasierte Initiativen verhindert werden könnten“. Die EU-Kommission befinde sich bereits „in Gesprächen mit den Mercosur-Staaten, um Fortschritte bei den Verpflichtungen betreffend den Klimaschutz und die Entwaldung zu erreichen“.

Wirtschaftsexperten kontern: „Veraltete Prognosedaten“
Scharfe Kritik an der Folgenabschätzung übten indes zahlreiche Ökonomen aus der EU und auch aus dem Mercosur. In einem offenen Brief mit fast 200 Unterzeichnern stellten sie dem Bericht ein ausnehmend schlechtes Zeugnis aus und appellierten an die EU-Kommission, eine neue Prüfung in Auftrag zu geben – auf Basis der aktuellsten empirischen Daten und moderner Modellierungsinstrumente.
Nach Angaben der Unterzeichner seien die von der LSE verwendeten Wirtschaftsmodelle auch nicht für die Bewertung der sozialen und ökologischen Auswirkungen des Mercosur-Abkommens geeignet. Auch die Folgen der Regenwald-Rodungen würden verharmlost. Außerdem wurde auch die Corona-Pandemie nicht berücksichtigt. Alternative Folgenabschätzungen kommen zu stark abweichenden Ergebnissen. Diese zeigen auf, dass das Abkommen die Erfüllung der Pariser Klimaziele behindert und zudem schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Auswirkungen auf Arbeitnehmer, Landwirte und insbesondere Kleinbauern diesseits und jenseits des Atlantiks haben wird.
Österreichs Landwirtschaftsministerin Köstinger hält „die Methodik der Studie für unzureichend, um die umfassenden Auswirkungen auf die EU-Landwirtschaft darzustellen. Es fehlen nach wie vor länderspezifische Auswirkungsanalysen auch für Österreich, insbesondere in sensiblen Landwirtschaftsbereichen.

Reaktionen dazu von Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger und Hermann Gahr, Abgeordneter im Nationalrat

Köstinger: „Die von der EU-Kommission beauftragte und nun nachgeschärfte Folgenabschätzung des EU-Mercosur-Paktes bleibt weiterhin ernüchternd und ist nicht mehr als ein Placebo. Außerdem ist sie verspätet vorgelegt worden. Sie hätte gemäß EU-Vorgaben bereits im Juni 2019 vorliegen müssen. Die österreichische Position ist klar: Im Regierungsprogramm ist ein klares Nein zu Mercosur verankert. Die finale Folgenabschätzung hätte schon viel früher vorliegen müssen. Die Ergebnisse konnten nicht mehr in die finalen Verhandlungen einfließen, das ist ein klares Versäumnis der Europäischen Kommission. Auch diese Version der Folgenabschätzung zeigt einmal mehr, dass das ausverhandelte Mercosur-Abkommen die Folgen auf die Landwirtschaft nicht ausreichend berücksichtigt. Das bekräftigt mich, weiterhin bei meinem klaren Nein zu bleiben.“

Gahr: „In dieser Studie werden die Folgen für die heimische Landwirtschaft schön geredet und verharmlost. Die Studie nimmt kaum Rücksicht auf die unterschiedlichen Produktionsbedingungen sowie Sozialstandards und die verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt. In Südamerika wird rund um die Hälfte billiger produziert als in Österreich. Das geht auf Kosten von Mensch, Tier und Umwelt. Die unterschiedlichen Sozialstandards, Tierschutzaspekte sowie die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln sind bei Weitem nicht vergleichbar. Auch dass es keine Bedenken hinsichtlich der Entwaldung in den Mercosur-Staaten gibt, ist fernab jeglicher Realität. Anscheinend sind die Bilder der massiven Brände am Amazonas den Studienautoren nicht mehr geläufig. Täglich werden große Teile des Regenwaldes für Futterflächen und Feed-Lots für Rinder gerodet. Das hat massive Auswirkungen auf das weltweite Klima sowie die Artenvielfalt. Wir können die Lunge der Erde nicht für die Rindfleischproduktion opfern, die wir sowieso nicht brauchen.“

Bernhard Weber

 

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