Interview mit Schweizer Herdenschutz-Experte: Massive Schwierigkeiten für geringen Erfolg

Symbolbild Herdenschutz
Umweltschutzorganisationen wie der WWF ziehen beim Thema Herdenschutz die Schweiz als Vorbild heran. Der einheimische Experte Peter Küchler aus dem Kanton Graubünden zeigt die Schattenseiten des Herdenschutzes in der Schweiz auf.

Je näher die Almsaison rückt, desto dringlicher beschäftigen uns die Themen Wolf, Bär und Herdenschutz. Österreichweit wird die Schweiz vor allem von NGO’s wie dem WWF immer wieder als Paradebeispiel für funktionierenden Herdenschutz herangezogen. Entspricht das der Wahrheit? Die Tiroler Bauernzeitung hat mit Peter Küchler, Direktor des Landwirtschaftlichen Bildungs- und Beratungszentrums Plantahof im Kanton Graubünden, der Fachstelle für Herdenschutz, über die Praxis von Herdenschutzmaßnahmen in der Schweiz und vor allem im Kanton Graubünden gesprochen.

 

Herr Küchler, wieviele Wölfe und Wolfsrudel gibt es derzeit nachweislich in der Schweiz?

KÜCHLER: Die Situation mit der Verbreitung der Großraubtiere ist in der Schweiz je nach Region ganz unterschiedlich. Es gibt Kantone, in welchen die Anwesenheit des Wolfes noch überhaupt kein Thema ist, und Kantone wie den unsrigen, in welchem wir eine ungeheuerlich große Wolfsdichte haben. Erlauben Sie mir deshalb, die Verhältnisse im Kanton Graubünden (rund 7.000 km2) zu schildern. Wir gehen aufgrund des sehr gut eingerichteten und seit vielen Jahren professionell betriebenen amtlichen Wolfsmonitorings davon aus, dass wir aktuell mehr als 70 Wölfe zählen, die sich in sechs Rudel, drei Paare und viele Einzelwölfe aufteilen. Damit beherbergen wir rund die Hälfte der in der Schweiz anwesenden Wölfe und rund zwei Drittel der Rudel.

Gab es heuer bereits Risse von Nutztieren?

KÜCHLER: Ja, wir haben in unserem Kanton Graubünden bereits in vier Talschaften Risse von Nutztieren zu beklagen. Insgesamt sind es bereits über 20 tote Schafe und der Alpsommer hat noch nicht einmal begonnen.

Wieviele Nutztierrisse gab es im vergangenen Jahr?

KÜCHLER: Im Alpsommer 2021 zählte man insgesamt an die 300 Nutztierrisse in unserem Kanton. Es handelt sich bei dieser Zahl lediglich um die amtlich festgestellten Nutztierrisse. Vermisste, abgestürzte und verletzte Tiere sind nicht dabei.

Ihre Expertenmeinung: Funktioniert der Herdenschutz in der Schweiz?

KÜCHLER: Bei der herrschenden hohen Wolfsdichte, der Anwesenheit von Elterntieren mit Jungen und der zahlreichen abgelegenen Alpungsflächen darf man sagen, dass der Herdenschutz mit Zäunen und Herdenschutzhunden, die Haltung in Nachtpferchen und die ständige Behirtung trotz allem einen gewissen Schutz bietet. Ohne diese Maßnahmen wären die Schäden wohl dermaßen schlimm, dass vielerorts keine Alpung mehr möglich wäre. Es sind jedoch drei wichtige Fakten hinzuzufügen:

  • Die Wölfe lernen, die Herdenschutzmaßnahmen zu umgehen. Da sie die Maßnahmen nicht als Gefahr betrachten, sondern lediglich als Hindernis, lernen sie, Zäune zu überspringen und Herdenschutzhunde zu umgehen. Die zusätzlich nötigen Herdenschutzmaßnahmen verursachen einen übermäßigen Mehraufwand, der in keinem Verhältnis mehr zum Nutzen steht.
  • Wegen der gut geschützten Kleinviehherden wenden sich die Wölfe vermehrt dem Großvieh zu. Im vergangenen Alpsommer mussten wir erste Risse von Kälbern beklagen. Zudem machen uns die festgestellten Verhaltensveränderungen von Mutterkuhherden im touristisch genutzten Alpgebiet große Sorgen.
  • Die immer weiter verbreiteten Herdenschutzmaßnahmen sorgen für Sekundärprobleme. Insbesondere die Winterhaltung der Herdenschutzhunde ist ein oft unlösbares Problem. Ebenso ist festzustellen, dass verschiedene Alpweiden nicht zumutbar schützbar sind, da die Maßnahmen nicht wirksam oder nicht verhältnismäßig sind.

Trotz aller Maßnahmen, des Aufwandes und der kleinen Erfolge hat die Summe der Probleme im Herdenschutz in den letzten Jahren zugenommen.

Wie stehen die Bauern zu den Herdenschutz-Vorgaben?

KÜCHLER: Die Bündner Land- und Alpwirtschaft hat ihren Beitrag zu einer möglichen Lösung des Problems geleistet. Da sich die Situation jedoch trotz dieser Anstrengungen offensichtlich noch verschlechtert, wird die konsequente Wolfsregulation vehement gefordert.

Gibt es in Graubünden auch Alpgebiete, die nicht mehr bestoßen werden, da der Herdenschutz nicht oder nur schwer umsetzbar ist?

KÜCHLER: Im Kanton Graubünden werden heuer mindestens drei Schaf-alpen mit jeweils mehreren hundert Tieren nicht mehr bestoßen. Alle wurden die Jahre vorher regelmäßig beweidet, ebenso hatten all diese Alpen im vergangenen Sommer Vorfälle mit dem Wolf zu beklagen.

Gerade Herdenschutzhunde werden im Tourismusland Tirol kritisch gesehen. Konflikte mit Erholungssuchenden seien vorprogrammiert. Welche Erfahrungswerte gibt es aus der Schweiz?

KÜCHLER: Noch sind gravierende Vorkommnisse zwischen Touristen und Herdenschutzhunden selten. Die gezielte Zucht und Ausbildung der Herdenschutzhunde sollen dazu beitragen, dass sich die Hunde richtig verhalten. Es ist jedoch logisch, dass sich verschiedene Gäste in den Ferienregionen nicht mehr gleich wohl und sicher fühlen, gewisse Wanderrouten zu gehen. Man behilft sich hier mit möglichst genauen Informationen über die Standorte der Herdenschutzhunde. Mehr Probleme verursachen die Herdenschutzhunde in der Winterhaltung in den Dörfern. Es sind die Lärmbelastung und der Aktionsradius der Hunde, die zu Reklamationen und zum Teil gar zu Haltungsverboten führen.

2020 entschied vor allem die urbane Bevölkerung per Volksabstimmung, den hohen Schutzstatus des Wolfes durch die Berner Konvention zu erhalten und die Entnahme von Wölfen dadurch nicht zu erleichtern. Herrscht noch immer diese Stimmung vor?

KÜCHLER: Mit dem Vordringen von Einzelwölfen ins Schweizer Mittelland, in die Nähe großer Städte und Agglomerationen könnte die Stimmung kippen. Noch ist es jedoch nicht sicher, dass eine erneute Volksabstimmung gewonnen werden könnte. Viele Schweizerinnen und Schweizer begrüßen die Rückkehr des Wolfes und erkennen die existenziellen Probleme der Alpwirtschaft nicht. Hier ist von Seiten der Landwirtschaft gewaltig viel Aufklärungsarbeit gefordert. Auf der andern Seite agieren die extremen Naturschutzorganisationen, die ohnehin einen Drittel der Alpweideflächen der Natur zurückgeben wollen.

In Tirol und anderen betroffenen österreichischen Bundesländern fordern die Funktionäre des Bauernbundes vehement die unbürokratische Entnahme von Problemwölfen. Welche Lösungsansätze für das Problem Wolf verfolgt die Schweizer Landwirtschaft aktuell?

KÜCHLER: Es ist das Ziel, die Wolfsregulation auf eine neue gesetzliche Basis zu stellen. Das Prinzip der Reaktion auf Vorfälle hat ausgedient. Es ist nicht mehr zielführend, die Schäden aufzusummieren (tote Schafe zählen), bei genügend großer Risszahl eine Regulation zu beantragen und den Wolfsabschuss anschließend unter schwierigen Rahmenbedingungen zu versuchen. Neu soll ein vorausschauendes Populationsmanagement in Kraft treten. Der für die Art-erhaltung erforderliche Wolfsbestand (Anzahl Rudel) soll festgeschrieben werden. An diesem Bestandesziel orientiert sich die Jagdbehörde vor Ort und nimmt die nötigen Abschüsse so vor, dass in erster Linie Wölfe mit unerwünschtem Verhalten eliminiert werden und die zurückbleibenden Wölfe erfahren, dass man sich von Nutztieren besser fernhält.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

 Peter KüchlerQuelle: Plantahof
Peter Küchler

Zur Person

Peter Küchler ist Direktor des Landwirtschaftlichen Bildungs- und Beratungszentrums Plantahof in Landquart (Graubünden/Schweiz). Der Plantahof berät Bäuerinnen und Bauern auf betrieblicher und regionaler Ebene in Planung und Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen.
www.plantahof.ch

- Bildquellen -

  • Küchler Peter: Plantahof
  • Symbolbild Herdenschutz: Adobe Stock
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AUTORHannah Pixner
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