Das leise Comeback des Landes

Warum gerade Dörfer und Kleinstädte in ganz Österreich eine besonders wichtige Rolle einnehmen und wie hier Zukunft entsteht, an der sich auch Großstädte orientieren werden, beschreibt die neue Trendstudie „Progressive Provinz – Die Zukunft des Landes“. Ein Essay von Gründer Matthias Horx.

Gerade Dörfer und Kleinstädte in ganz Österreich nehmen eine besonders wichtige Rolle ein. Foto: Stockr - stock.adobe.com

Während der Megatrend Urbanisierung Menschen,
Ideen und Arbeit in die Metropolen saugt, in denen Kreativität und Komplexität ein abwechslungsreiches Leben bieten, fallen gleichzeitig ganze Landstriche der Ödnis, Frustration und Verlassenheit anheim. In den vernachlässigten ländlichen Flächen verabschiedet sich die Zukunft. Schulen werden geschlossen, Buslinien gekappt, der Populismus grassiert. Ist der ländliche Raum dem Untergang geweiht?
Zum Basiswissen der Zukunftsforschung zählt auch die Erkenntnis, dass jeder Trend irgendwann einen Gegentrend erzeugt. In den nächsten Jahren wird sich deshalb die Sehnsucht nach Urbanität wieder umkehren: Dörfer, Kleinstädte und ländliche Regionen können eine Renaissance erleben. In den Konzepten der Progressiven Provinz finden Beziehungsqualität und Weltoffenheit auf neue Weise zusammen – und erzeugen eine neue Vitalität des Lokalen.

Matthias Horx hat 1998 das Zukunftsinstitut mit Sitz in Frankfurt und Wien gegründet. Er gilt als der profilierteste Trend-Forscher im deutschsprachigen Raum und ist als Zukunftsberater für namhafte Firmen tätig.
Foto: Matthias Horx

Es gibt zwei Provinzen
Schon heute gibt es Regionen in Europa, die von ihrer Topografie her Provinz sind – sich aber mitten in einem vitalen Aufstieg befinden. Abgelegene Dörfer, in die plötzlich das Leben einkehrt. Denn längst verläuft der Bruch zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Urbanisierung zwischen den Regionen. Deshalb gibt es zwei Provinzen: In der einen verkriechen sich die Bewohnerinnen und Bewohner in Passivität und Opfermentalität, in der anderen aber herrscht ein Klima der Offenheit und des Wandels. Hier hat sich eine kulturelle Urbanisierung durchgesetzt und mit Qualitäten des Dörflichen synergetisch verwoben. Eine Wir-Kultur ohne die chaotisierenden Nachteile der Großstadt. Solche Orte wollen es wissen. Sie reinnovieren sich selbst – und plötzlich steigt die Einwohnerzahl wieder an! Überall entstehen Resonanzregionen, Zukunftsdörfer.
Corona in Kombination mit der endgültigen Normalisierung von „Remote Work“, also Heimarbeit, macht das Land zur neuen Stadt, zum Sehnsuchtsort, der nun zum Greifen nah scheint – mit dem Versprechen nach mehr Raum und Lebensqualität. Digitalisierung ist Grundbedingung dafür. „Agronica“ nennt der italienische Architekt Andrea Branzi diese Bedingungen der elektronischen Kommunikation für den umgestalteten ländlichen Raum.
Aber das Internet allein kann die Verödungsgefahr nicht bannen. Dörfer und kleine Gemeinden sind – so wie die großen Städte – soziale Organismen. Das Netz löst Verbindungsfragen, aber keine Beziehungsfragen. Deshalb ist die Frage, wie Transformationslandschaften und Resonanzregionen entstehen, vor allem eine Frage nach den Beziehungen der Bewohnerinnen und Bewohner.

Land-Stadt-Beziehungen: Ein Rückblick
In den 1960er- und 1970er-Jahren war der Zyklus noch eindeutig: Man verließ das spießige Elternhaus in der Provinz, um in der großen Stadt Bildung und Vielfalt zu leben. Um dann, wenn die Familiengründung anstand, an den Stadtrand zu ziehen: nach „Suburbia“, ins Reich der Reihenhäuser und Carports, der anonymen Einkaufszentren zwischen Rübenäckern. Auch wenn in Europa die Vorstädte nicht in der gleichen Weise wucherten wie in den USA, bilden sie auch hierzulande das Niemandsland, sind oftmals nur ein Schlafort ohne soziales Leben oder ein Ersatzort, an dem man sich nie heimisch fühlt. Weil weder das Lebendige noch das Gewachsene existiert.
In den 1990er-Jahren brachte der „neue Urbanismus“ ein neues Stadtgefühl, eine enorme Steigerung urbaner Lebensqualität. Kunst und Kultur erlebten einen beispiellosen Boom, oftmals spektakuläre Architektur belebte die Stadtzentren und brachte das neue Milieu der „kreativen Klasse“ an die Stelle des alten Bürgertums. Dazu kam eine „Ergrünung“ des Urbanen; Fahrräder waren nicht mehr nur Hindernisse für Autos, und die Natur wurde zögerlich und gezähmt zurück in die Städte geholt. Das führte zu einer Rückkehr der Stadtflüchtigen und Zweitwohnbesitzer, welche die unwirtlichen Städte in den 1980-ern für die Hütte in den Bergen, das Bauernhaus in der Toskana oder die Finca in Spanien (zeitweise) verlassen hatten.
Heute scheint sich eine neue Krise des Urbanen abzuzeichnen: Stichwort „Wohnungsnot“. Die Pandemie hat die großen Nachteile des städtischen Lebens für alle sichtbar und spürbar gemacht. Für immer mehr Menschen ist Stadtflucht plötzlich ein Thema. Aber der Schein trügt. Zwar scheint die starke Welle der Urbanisierung, die seit der Jahrtausendwende die Städte wachsen und die Kleinstädte und Dörfer (weiter) schrumpfen ließ, an ein Ende zu kommen. Aber die Entwicklung ist weder eindeutig noch homogen. Es entwickeln sich neue Mischformen, Synthesen jenseits der Kategorien von Urbanität/Suburbanität/Provinz. Das hat zum Teil mit dem Internet zu tun, mit den neuen Möglichkeiten der Vernetzung. Aber auch mit einer Wiederentdeckung des konkreten Ortes als Lebensraum, in dem eine Vielfalt von sozialen Bedürfnissen erfüllt werden kann. Es geht um die Überwindung von „urbane Vereinzelung und Anonymität“ versus „dörfliche Enge“.
Der Mensch ist ein Bindungswesen. Städte sind ein soziales Risiko. Wenn man es schafft, in der Dynamik einer Großstadt heimisch zu werden, lässt man sozusagen sich selbst hinter sich, was das Leben von Grund auf verändert. Nicht jeder und jede schafft das. Viele scheitern an der Überfülle, der Anonymität, am Konkurrenzkampf. Sie werden einsam, mitten im Getümmel der Metropolen. Aber wenn eine Lebensbiografie in städtischer Entfremdung stockt, wenn man in einer bestimmten Lebensphase das Tempo nicht mehr halten kann, dann werden neue Pläne geschmiedet: das kleine Haus am Meer, die Hütte in den Bergen oder das Wochenendhäuschen in der nahegelegenen Provinz. Dann wird mit unendlicher Geduld der Bauernhof im Waldviertel renoviert. Dort, wo die Kinder glücklicher aufwachsen sollen und Erwachse endlich entschleunigen, fern von Beton, Lärm, Verkehrsstress.
Solche Idyllen-Träume scheiterten oft an individueller Überforderung, an der Illusion von Autonomie, auch an innerer Verbitterung. Die nächste urbane Exodus-Welle wird deshalb anders verlaufen: Es geht im Kern um ein neues regionales oder dörfliches Selbstbewusstsein, das auch Rückkehrende und Neuankömmlinge integrieren kann, um eine dynamische soziale Nähe, die in kleineren Lebenseinheiten besser zu finden ist.

„Provinzrenaissance“ versus Industriegesellschaft
Während Dörfer und Kleinstädte früher versuchten, mit betonierten Gewerbeparks an die urbane Welt anzuschließen, überwindet die nächste Phase der „Provinzrenaissance“ die Topografie der Industriegesellschaft. Gerade die Wissensgesellschaft eröffnet ihr neue Märkte und Chancen, sowohl im Boom der Lebensqualität (von Biolandbau bis Gourmet-Bauernhof) als auch im menschlichen Beziehungswesen (von Gesundheitsleistungen bis zu Sport und Naturerleben). Design, Architektur und Kunst sowie Gastronomie und Handwerk können gerade in der tiefsten Provinz die entscheidende vitalisierende Rolle spielen.
Technologie ist wichtig, aber nicht alles. Im Kern der ruralen Renaissance stehen die lebendigen Beziehungen zwischen Menschen. Und längst sind es nicht mehr nur Sportvereine und freiwillige Feuerwehren, die die ländliche Zivilgesellschaft ausmachen. Kleinstädte, Dörfer und Regionen können sich selbst neu erfinden, wenn sie ihre sozialen Potenziale heben: Ihr Standortvorteil gegenüber der Großstadt.

Matthias Horx

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AUTORRed. SN
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