Wie hoch schätzen Sie durch den Krieg in der Ukraine das Risiko einer unzureichenden Lebensmittelversorgung in der EU ein?
Burtscher: Die Aggression Russlands in der Ukraine hat folgenschwere Auswirkungen auf das globale Lebensmittelsystem. Die Ernährungssicherheit ist zu einem zentralen Anliegen geworden. In der Ukraine selbst, aber auch in der Nachbarschaft der EU, von Afrika bis Asien. Dies betrifft besonders Weizen als ein zentrales Grundnahrungsmittel. Die Ernährungssicherheit ist heute in der EU nicht in Gefahr, da wir bei allen wichtigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen weitgehend autark sind. Die Krise in der Ukraine zeigt jedoch, dass wir von wichtigen Inputs wie Düngemitteln und Eiweißpflanzen für die Tiernahrung abhängig sind. Darüber hinaus sind steigende Nahrungsmittelpreise zu einem wichtigen Thema geworden, insbesondere für unsere sozial schlechter gestellten Bürger. Hier gilt es sicherzustellen, dass sich alle Menschen weiterhin ausreichend gesunde Lebensmitteln leisten können.
Die EU hat zur Unterstützung der Landwirte in der derzeitigen Krise etwa die konventionelle Erzeugung auf Ökologischen Vorrangflächen genehmigt. Kritiker sagen, dass damit kaum viel mehr Weizen zu erwarten sei. Gleichzeitig könnten die Auswirkungen auf die Umwelt schwerwiegend sein. Mit wie viel zusätzlichem Getreide rechnen Sie?
21 Mitgliedstaaten wenden die Ausnahme heuer an. In diesen Ländern wurden 2020 rund 1,5 Millionen Hektar stillgelegt. Prinzipiell entscheiden die Landwirte aufgrund ihres Anbauplans oder der Marktpreise, ob sie von der Ausnahmeregelung Gebrauch machen. Wir haben die Mitgliedstaaten aufgefordert, uns umgehend Informationen zu den geschätzten Auswirkungen zukommen zu lassen.
Inwieweit ist die Union in der Lage, zumindest einen Teil der Produktionsverluste der ukrainischen Landwirtschaft zu abzudecken?
Es ist aus geostrategischer Sicht von grundlegender Bedeutung, dass wir dazu beitragen, die drohende Produktionslücke insbesondere bei Weizen zu schließen. Die EU ist nicht nur ein wichtiger Nettoexporteur von Weizen. Wir haben auch weltweit die höchsten Erträge. In den vergangenen fünf Jahren hat die EU jährlich etwa 27 Millionen Tonnen Weichweizen exportiert. Für 2022/23 rechnen wir mit bis zu 40 Millionen Tonnen, was einen wichtigen Beitrag zum Weltmarkt leisten würde. Allerdings hängt das alles von den Witterungsbedingungen oder der Verfügbarkeit etwa von Dünger ab.
Die Mehrheit der Mitgliedstaaten hat ihre Vorschläge zu den Strategieplänen der GAP vor der russischen Invasion vorgelegt. Nun fordern einige Anpassungen mit einem stärkeren Schwerpunkt auf Ernährungssicherheit innerhalb der EU. Inwieweit ist man in Brüssel dazu bereit, eine Steigerung der Produktion zulasten der Umweltleistung zu ermöglichen?
Wir haben bereits deutlich gemacht, dass es keine Alternativen zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft gibt, wie sie in den Strategien des Green Deal vorgesehen ist. Die überarbeitete GAP ermöglicht es den Mitgliedstaaten mit ihren Strategieplänen bereits, sich mit Resilienzproblemen zu befassen, die sich aus der Krise in der Ukraine ergeben. So enthält die Farm-to-Fork-Strategie Ziele zur Verringerung des Einsatzes von Düngemitteln, etwa durch Präzisionslandwirtschaft. Was die Steigerung der Produktion betrifft, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass die GAP auf der Annahme beruht, dass die Landwirte auf die Marktsignale reagieren werden, sofern die Rahmenbedingungen ihnen dies erlauben.
Kürzlich haben Sie vor dem Landwirtschaftsausschuss des EU-Parlaments betont, die meisten Strategiepläne der Mitgliedstaaten würden noch nicht ausreichen. Warum?
Die vorgeschlagenen GAP-Pläne wurden vor dem Krieg in der Ukraine ausgearbeitet. Wir fordern nun dazu auf, erneut zu prüfen, ob die Maßnahmen dazu beitragen können, etwa unsere Abhängigkeit von Betriebsmitteln und Energie zu verringern. Auch gibt es Bereiche, in denen wir in der Kommission der Ansicht sind, dass die nationalen GAP-Pläne etwa den rechtlichen Anforderungen und den spezifischen Zielsetzungen gerecht werden. Etwa bei der gerechten Verteilung der Direktzahlungen zwischen den Großbetrieben einerseits und den kleinen und mittleren Betrieben andererseits
Was, wenn nicht alle bereit sind, diese rechtlichen Standards zu erfüllen?
Die neue GAP tritt am 1. Jänner 2023 in Kraft. Es gibt ausreichende Anreize, um die erfolgreiche Genehmigung der Pläne bis zu diesem Datum zu gewährleisten.
Wann sind die Vorschläge für das Gesetz über die Reduzierung von Pestiziden zu erwarten?
Die Annahme des Gesetzgebungsakts über die Verringerung von Pestiziden ist vorläufig für das zweite Quartal 2023 geplant. Dieser Zeitplan ist jedoch vorläufig. Die Tagesordnung des Kollegiums wird kurzfristig von den Kabinettschefs entschieden.