Getreidefrachter
Die Razoni, vollbeladen nicht mit Weizen, sondern mit Mais für die Geflügelwirtschaft, vor der türkischen Küste. Nicht nur im Libanon ist die Enttäuschung enorm groß.

Die Istanbuler Getreidevereinbarung, in der Russland Frachtschiffen mit ukrainischem Getreide freies Geleit zusicherte, wurde international als Wendepunkt in einer globalen Versorgungskrise begrüßt. UN-Generalsekretär António Guterres sprach gar von einem „Leuchtfeuer der Hoffnung“. Doch bisher kam bei den Hungernden dieser Welt noch kein Getreide an, obwohl bereits über 270.000 Tonnen Waren den Hafen von Odessa verlassen haben.

Frachter auf Irrwegen
Für Kopfschütteln sorgt aktuell vor allem die „Razoni“, welche medienwirksam – beladen mit 26.000 Tonnen Mais – aufgebrochen war, um nach einer Inspektion in Istanbul den Hafen Tripoli im Libanon zu erreichen. Dort kam der Frachter jedoch niemals an. Denn kurz nach dem Auslaufen in Istanbul erfolgte eine Kurskorrektur, gefolgt von einem mehrtägigen Zwischenstopp vor der türkischen Küste. In der Nacht auf Dienstag ging die „Razoni“ vor dem Hafen von Mersin (Türkei) im Mittelmeer vor Anker, wo sie sich bis zum Redaktionsschluss auch befand.

Grund für die Irrfahrt sei, laut Angaben der ukrainischen Botschaft im Libanon, dass der Käufer der Fracht wegen fünfmonatiger Wartezeit abgesprungen sei und nun erst neue Abnehmer gesucht werden müssten. Pikantes Detail: wie die Nachrichtenagentur AP berichtet, handelt es sich bei der Ladung ohnehin um Futtermais, der nicht zur Humanernährung bestimmt sei. Libanesische Regierungsvertreter hingegen gaben gegenüber der Deutschen Presseagentur (DPA) an, besagter Händler hätte Teile der Ladung nach Syrien vermarkten wollen, was zwar legal sei, jedoch durch Sanktionen massiv erschwert werde.

Kontrolle in IstanbulQuelle: Turkish Defence Ministry/AFP/picturedesk.com
Kontrolle im Hafen von Istanbul.

Beides ist in Anbetracht der massiven Brotpreiskrise im Libanon blanker Hohn. Das kleine Mittelmeerland, welches nach der Explosionskatastrophe vor zwei Jahren im Hafen von Beirut zahlreiche Getreidespeicher verlor, bezog vor dem Krieg 70 Prozent seines Getreides aus der Ukraine. Mittlerweile kostet Weizenmehl 200 Prozent mehr als vor Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Die Debatte um die „Razoni“ kritisierte auch der Präsident des libanesischen Konsortiums für Lebensmittelimporte, Hani Buschali: „In dieser schweren Lebensmittelkrise brauche das Land dringend Weizen und keinen Mais.“

Zielhäfen nicht bei den Hungernden
Auch die übrigen Schiffe die bisher die Schwarzmeerhäfen verlassen hatten, erreichten nicht jene Länder die dringend Hilfe benötigen. Traditionelle Importnationen wie Somalia, Äthiopien oder Kenia warten aufgrund von Dürre heuer dringend auf Getreide. Bisherige Ziele der ausgelaufenen Schiffe waren jedoch andere – Mais für die Türkei und Südkorea, Schrot für China oder Sonnenblumenöl für Italien. Auch nach Irland oder Großbritannien waren bereits Schiffe ausgelaufen. Weitere Exportschlager: Sonnenblumenmehl und Sojabohnen. Der ukrainische Infrastrukturminister Olexandr Kubrakow beruhigt unterdessen auf Twitter: „Wir wollen sicherstellen, dass die Häfen in Kürze 100 Schiffe pro Monat abfertigen können.“

Der Rückstau hat Konsequenzen
Kubrakows Ankündigung ist nicht unbegründet, das bisherige Exportdefizit der Ukraine wird derzeit auf 25 Mio. Tonnen Getreide geschätzt. Um den Abbau der Lagerbestände logistisch zu schaffen, würden rund 570 Schiffsladungen benötigt, wie Vincent Stramer vom Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) vorrechnet und ergänzt: „Gerade weil die Ernte von Getreide jetzt wieder beginnt und die Lager dafür dringend gebraucht werden, müssen auch andere Transportmöglichkeiten wie Züge und Lkw voll ausgeschöpft werden.“

Und tatsächlich wird für Getreide und Ölsaaten in der kriegsgebeutelten Nation nun eine größere Ernte erwartet als im Frühjahr prognostiziert. Schätzten im Mai Analysten die Gesamterntemenge noch auf 53,3 Mio. Tonnen, sprach der ukrainische Agrarminister Mykola Solskyj in einer offiziellen Aussendung zuletzt von 65 bis 67 Mio. Tonnen. Mehr als 12 Mio. Tonnen der neuen Ernte sei bereits eingefahren, wobei vor allem Weizen gute Erträge liefere. Eine Menge von 20 Mio. Tonnen Weizen werde erwartet, also gut zwei Drittel einer Vorkriegsernte. „Wir müssten monatlich sechs Millionen Tonnen Getreide exportieren“, gab Vize-Landwirtschaf tsminister Taras Wyssozkyj im Hinblick auf schwindende Lagerkapazitäten zu bedenken.

- Bildquellen -

  • Kontrolle in Istanbul: Turkish Defence Ministry/AFP/picturedesk.com
  • Getreidefrachter “Razoni”: Ozan Kose/AFP/picturedesk.com
- Werbung -
AUTORClemens Wieltsch
Vorheriger ArtikelTerminmarkt International August ’22 – Dürresorgen bei Raps und Mais, Weizen stabilisiert
Nächster ArtikelAgrar-Terminmarkt 10. August ’22 – Weizenpreis testet die Standfestigkeit