Die Landwirtschaft als Gesamtpaket sehen

Mathias Binswanger bezeichnet sich selbst als „Ökonom und Glücksforscher“. Vor Kurzem ist sein jüngstes Buch „Mehr Wohlstand durch weniger Agrarfreihandel“ erschienen. ProHektar hat ihn dazu um ein Interview gebeten.

Interview: Juliane Fischer

Wie viel Hektar braucht ein österreichischer Ackerbauer für sein Glück? Binswanger: Das hängt von vielen Faktoren ab, etwa von der Art der Landwirtschaft. Ob Haupt-, oder Nebenerwerb, in welcher Lage und so weiter. Aber tendenziell hat man es als kleiner Bauer immer schwieriger.

Wie hängen Erfolg und Betriebsgröße zusammen? Im heutigen System lautet die Devise oft: je größer, desto besser. Dadurch, dass es wenig Direktverkauf gibt, liegt die Marktmacht beim Handel, und der wünscht sich ein paar wenige homogene Stoffe in einer bestimmten Qualität. Zusätzlich drücken die wenigen Abnehmer die Preise nach unten. Sie können das durchsetzen, weil sie sagen: „Wir zahlen euch nur diesen Preis, und wenn euch der nicht passt, dann verkauft doch woanders.“
Nur: Dieses Woanders gibt es nicht. Um so kostengünstig zu produzieren, müssen die Bauern immer produktiver werden. Aber weil die Preise sinken, führt auch die steigende Produktionsmenge nicht zu mehr Einnahmen. Die weniger produktiven Bauern geben ihre Tätigkeit auf. Wir geraten zunehmend in eine industrialisierte Hochleistungslandwirtschaft, die weder Mensch noch Tier noch der Natur guttut.

Wie lange kann es so ein Wachstum geben? Prinzipiell kann die Industrialisierung der Landwirtschaft noch viel weiter gehen. Das wäre aber eine Fehlentwicklung. Wir erhalten die Landwirtschaft in Ländern wie der Schweiz oder Österreich aufgrund ihrer Multifunktionalität: für die Versorgungs- oder Ernährungssicherheit, die Pflege der Kulturlandschaft, die Garantie des Tierwohls oder die Förderung der Biodiversität. Industrielle Massenbetriebe widersprechen diesen Grundsätzen, aufgrund derer man die Landwirtschaft überhaupt erhält. Die Landwirtschaft kann nicht immer produktiver und andererseits nachhaltiger werden. Das ist ein Widerspruch.

Was sind Ihre wichtigsten Forderungen an die GAP? Es geht um Grenzschutz und Subventionen. Die Subventionen gehen aber zu einem großen Teil nach hinten und vorne weg und bleiben nicht auf dem Bauernhof. Entweder profitieren die Abnehmer, also der Handel, weil sie den Bauern für die steigenden Produktionsmengen immer geringere Preise zahlen. Oder es profitieren Produzenten von Vorleistungen oder Investitionsgütern, also die Hersteller von Saatgut, Düngemitteln oder Maschinen, weil die Bauern versuchen, durch entsprechende Einkäufe oder Investitionen die Produktivität zu steigern. Um gegenzusteuern, gestaltet man Subventionen oder besser Direktzahlungen immer differenzierter: Man erhält Geld für hochstämmige Bäume, bestimmte Ufergestaltung oder die Pflege gewisser Wiesenformen. Aber das führt zu einer ziemlichen Bürokratie und macht die Bauern immer mehr zu Landschaftsgärtnern, während die eigentliche Lebensmittelproduktion sich immer weniger lohnt. Der Lebensmittelindustrie kommt diese Entwicklung allerdings nicht ungelegen. Sie müssen dann nicht mehr die in ihren Augen „teuren inländischen Agrarprodukte“ einkaufen, sondern können diese billig aus dem Ausland importieren.

Ihr Vorschlag? Nicht zu extrem ausdifferenzieren. Dinge fördern, die letztlich dazu führen, dass die Produktion der Nahrungsmittel im Einklang steht mit den natürlichen Gegebenheiten. Zum Beispiel Beweidung der Almen, was mit Hochleistungskühen gar nicht mehr geht, anstatt Futtermittelimport.

Verhältnismäßig verkaufen nur noch wenige Bauern ab Hof. Pandemie und Ausgangseinschränkungen haben ein bisschen den Blick wieder auf Direktvermarktung gelenkt. Im Idealfall kommt auf diese Weise die Wertschöpfung wieder verstärkt auf den Hof zurück. Das ist für Bauern in Stadtnähe einfacher. Aber für die Bergbauern geht das nicht. Da hat man noch keine gute Möglichkeit gefunden. Es blieb bei Versuchen, zum Beispiel für lokale Milch.

Apropos Milch: Wie stehen Sie zum Genossenschaftsmodell? Diese Modelle sind uralt. Gegründet, um sich der schwierigen Situation zu entziehen, sind sie inzwischen oft groß geworden und teilweise auch zu Gegnern der Bauern. Viele haben als Milchvermarkter eigene Interessen entwickelt. Genossenschaften müssen bauernnah bleiben, um die Interessen der Bauern nicht aus den Augen zu verlieren.

Sie haben vor zehn Jahren schon ein Buch über Globalisierung und Landwirtschaft veröffentlicht. Was hat sich seither verändert? Die DOHA-Runde (Verhandlungen der Wirtschafts- und Handelsminister der WTO-Mitgliedstaaten, Anm.) ist inzwischen gescheitert. Solche multilateralen Abkommen sind im Moment auf Eis gelegt. Doch de facto hat dies den Druck zu mehr Freihandel verschärft, denn inzwischen sind bilaterale Handelsabkommen zwischen einzelnen Staaten oder Staatengemeinschaften immer wichtiger geworden. Die Bauern werden dort schnell zum Bremsklotz erklärt à la „Wegen ein paar Agrarprodukten müssen wir auf die Vorteile des Freihandels verzichten und können nicht frei exportieren.“

Was unterscheidet denn Ihrer Ansicht nach die Landwirtschaft von anderen Branchen? Neben der Arbeit ist der Boden der wichtigste Produktionsfaktor. Er ist naturgegeben. Man kann nur bebauen, was da ist, und ihn auch nicht verlagern. Bei der Industrie ist Kapital neben Arbeit der wichtigste Produktionsfaktor, und der ist mobil. Keine andere Branche ist so stark an den Ort gebunden wie die Landwirtschaft. Zudem ist Nahrung das wichtigste Produkt für den Menschen. Diese Sonderrolle hat man lange anerkannt. Deswegen waren Agrarprodukte bis in die 1980er Jahre vom Freihandel ausgenommen. Mit der Uruguay-Runde des GATT (heute WTO, Anm.) hat sich das geändert und führt seither zu Problemen.

„Wir brauchen das Bekenntnis, das wir Lebensmittel möglichst lokal produzieren wollen.“

Mehr Wohlstand durch weniger Agrarfreihandel ist Ihr aktuellstes Buch betitelt. Was muss dafür geschehen? Wir müssen akzeptieren, dass die Landwirtschaft ein Sonderfall ist. Wenn wir sie dem Markt überlassen, hat sie keine Chance. Dann geht es ihr ähnlich wie der Textilindustrie, die in unseren Gegenden verschwunden ist. Wenn wir eine produzierende Landwirtschaft erhalten wollen, braucht es einerseits Subventionen, aber andererseits auch einen gewissen Grenzschutz. Dieser wirkt zielsicherer und hilft den Bauern direkter, weil von den Subventionen, wie weiter oben erwähnt, oft gar nicht die Bauern selbst profitieren. Deshalb sollte man die Landwirtschaft wieder ausnehmen vom Freihandel, wie das bis in die 1980er Jahre der Fall war. Sie ist ein ortsgebundener Spezialfall. Wir brauchen das Bekenntnis, das wir Lebensmittel möglichst lokal produzieren wollen. Eine nachhaltige Lebensmittelversorgung mit frischen Produkten beruht auf möglichst kurzen Transportwegen.

Sie zitieren gleich zu Beginn den Ökonomen David Ricardo. Was ist seine Theorie? Er hat die Zauberformel des komparativen Vorteils geschaffen. Es gilt seitdem als „Standardwissen“, dass Freihandel grundsätzlich den Wohlstand vergrößert, während Handelsbarrieren etwa Zölle oder Importbeschränkungen dies verhindern.

Können Sie das mit einem Beispiel konkret machen? Man braucht kein Genie sein, um einzusehen, dass es für ein Land wie Österreich vorteilhafter ist, Bananen von den Philippinen einzuführen, anstatt sie selbst in Gewächshäusern zu pflanzen. Umgekehrt hat die Alpennation den Inseln im Wintersport etwas voraus. Aber Ricardos Theorie verspricht Wohlstand, wenn sich jedes Land auf die Produktion eines Gutes spezialisiert, selbst wenn ein Land bei der Produktion aller Güter überlegen ist.

Und das kann nicht funktionieren, weil? Weil die Bedingungen des Modells in der Realität oft nicht erfüllt sind. Interessanterweise zeigt schon das historische Beispiel eines Freihandelsvertrages zwischen England und Portugal, wie Freihandel Schaden anrichten kann. Er hat die Portugiesen verpflichtet, das Importverbot von englischem Tuch aufzuheben. Die Engländer erklärten sich im Gegenzug dazu bereit, die Zölle für portugiesischen Wein zu senken.

Mit welchem Ergebnis? Der Vertrag kam einseitig den Engländern zugute. Sie haben Portugal mit englischem Tuch überschwemmt und die aufkeimende portugiesische Tuchindustrie vernichtet, um ihr eigenes Tuch nach Portugal zu bringen. Der Export von portugiesischem Wein erhöhte sich viel weniger. Was sich geändert hat seit der Zeit von Ricardo, der seine Theorie 1817 vorgestellt hat: die Spezialisierung erfolgt nur noch zum Teil über Endprodukte und vermehrt entlang von Wertschöpfungsketten.

Sie meinen, dass die meiste Landwirtschaft sich heute auf eine einzige Einnahmequelle  fokussiert? Halten Sie das für den richtigen Weg? Nein, das ist jener Weg, den der Rest der Wirtschaft geht. Wenn wir den einschlagen, können wir es auch bleiben lassen. Denn wenn wir nur auf Produktivität schauen, fördern wir eine industrialisierte Landwirtschaft, die wir eigentlich nicht wollen. Und konkurrenzfähig wären wir auch dann nicht. Da kann man in Ländern wie Österreich oder der Schweiz noch so produktiv werden. Aufgrund der ungünstigen Topographie und des Klimas werden sie auf dem Weltmarkt trotzdem nicht konkurrenzfähig sein. Der einzige Weg führt über qualitativ hochstehende, lokal produzierte Produkte! Landwirtschaft muss als Gesamtpaket gesehen werden, welches Nahrungsmittel als Hauptprodukt und multifunktionale Leistungen als Nebenprodukt produziert. Die Erhaltung der Kulturlandschaft ist etwa ein solches Nebenprodukt. Hätten wir keine Bauern, dann müsste man Landschaftsgärtner dafür anstellen. Die müssten vom Staat aber teuer bezahlt werden.

Es bahnt sich momentan eine Krise an. Ist die Rezession eine Chance zum kompletten Umbau des Systems? Das glaube ich nicht. Die Wirtschaft ist nach wie vor dieselbe. Was bleiben wird: mehr Home-Office und weniger Kurzstreckenflüge.

Ein Todschlagargument, das immer kommt: Die Bevölkerung wächst, wir müssen die Produktion steigern. Die Produktion wird ja weltweit gesteigert. Bei uns ist das Problem aber ganz anders gelagert. Es wird zu viel Milch und teilweise zu viel Fleisch produziert. Die ehemaligen Regelungen für Mengenbeschränkungen wie die Milchkontingentierung wurden aufgehoben. Länder mit vielen Bergbauern wie Österreich und die Schweiz produzieren Agrarprodukte aber nicht für den Export, denn dafür ist die Produktion viel zu teuer. Das lohnt sich nur für Spezialitäten wie bestimmte Käse- oder Wurstprodukte. Es geht darum, eine lokale Lebensmittelversorgung aufrechtzuerhalten.

Das „Wo“ ist auch relevant, was das Bevölkerungswachstum angeht. Genau. Hungerleidenden Afrikanern hilft ja unsere Produktionssteigerung nichts. Im Gegenteil.

Gibt es Agrarsysteme in anderen Ländern, von denen wir lernen können? Kanada scheint es nicht so schlecht zu machen. Dort regelt eine Quote, wie viel Milch auf den Markt kommt. Den Bauern wird ein Mindestpreis garantiert.

„Man kann nicht immer produktiver werden und gleichzeitig nachhaltige, tierfreundliche Öko-Landwirtschaft betreiben.“

Was soll man also jetzt als Wichtigstes tun? Grenzschutz für Agrarprodukte wieder erlauben! Wir müssen die Landwirtschaft als Sonderfall betrachten und die Politik dahinter auf ihre Widersprüche durchforsten: Man kann nicht immer produktiver werden und gleichzeitig nachhaltige, tierfreundliche, ökologische Landwirtschaft betreiben. Es gilt nicht, eine Landwirtschaft zu fördern, die möglichst produktiv ist, sondern möglichst nachhaltig. Landwirtschaftliche Ausbildung ist leider sehr stark betriebswirtschaftlich organisiert. Die volkswirtschaftliche Komponente fehlt im Unterricht. Die Bauern werden ständig dazu angehalten, bestimmten Moden und Trends zu folgen, wobei man die großen Zusammenhänge aus den Augen verliert. Sie brauchen eine klare Linie und längerfristige Verlässlichkeit.


Juliane Fischer ist freie Journalistin, schreibt u.a. für Presse, Salzburger Nachrichten, Falter, Furche, Biorama und ihre Weinglosse in der Kurier-Freizeit.Ist aufgewachsen auf einem kleinen Biohof in Niederösterreich, wo sie auch einen eigenen Weingarten bewirtschaftet.

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der FH Nordwestschweiz und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen.

ISBN: Mathias Biswanger, „Mehr Wohlstand durch weniger Agrarfreihandel“, 120 Seiten, Preis: 15 Euro, ISBN 9783711720948.

- Bildquellen -

  • Mathias Biswanger: Picus Verlag
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AUTORJuliane Fischer
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