Jubeln über Biden?

Kommentar von Conrad Seidl,
Redakteur “Der Standard”

War das ein Aufatmen! Joe Biden wird 46. Präsident der USA – das gefällt den meisten Journalisten und infolgedessen auch den meisten Medienkonsumenten. In einer repräsentativen Umfrage des Linzer Market-Instituts kurz vor der amerikanischen Wahl haben 68 Prozent der Österreicher ihre Präferenz für Biden bekundet. Donald Trump ist Geschichte – und welches Bild die Geschichts-schreibung von ihm zeichnen wird, ist nicht schwer vorherzusagen, da wird sich die aktuelle Deutung kaum verschieben.
Dass Biden (besonders im Kontrast zu Trump) besonnen wirkt und rational zu handeln imstande ist, verschafft dem künftigen Hausherrn des Weißen Hauses vorab Respekt und Sympathien. Gerade auch aus Europa. Biden nimmt die Corona- und die Klima-Bedrohungen ähnlich ernst wie die Staatenlenker auf dem alten Kontinent. Das ist erfreulich, aber bei näherem Hinsehen nur Mindeststandard. Was wir Europäer beachten sollten: Biden wird sich in den nächsten Monaten und Jahren auf sein Heimatland und die Interessen der zuletzt tief gespaltenen Wählerschaft konzentrieren müssen. Das betrifft die US-Wirtschaft und damit die Handelskonflikte, in denen sich wohl der Ton mäßigen wird – während die grundsätzlichen Interessen gleichbleiben. Das betrifft ebenso die Sicherheitspolitik, in der Europa schon seit Barack Obama immer weniger Rolle spielt. Sowohl in Wirtschafts- als auch in Sicherheitsfragen wird die EU daher ihre Eigeninteressen selbst vertreten müssen. Und das wird bei allem Jubel über Bidens Sieg viel Anstrengung kosten. Und viel Geld.

conrad.seidl@gmx.at

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