Herbert Dorfmann
Dorfmann sieht die Themen Produktion und Versorgungssicherheit nun wieder klar im Fokus.

Herr Dorfmann, die russische Invasion in die Ukraine hat weltweit erhebliche Folgen für die Ernährungssituation in vielen Ländern. Die EU hat Solidaritätsrouten für ukrainische Agrargüter eingerichtet. Was kann die EU noch tun?
DORFMANN:
Wir müssen weiterhin alles unternehmen, um die Agrarprodukte aus der Ukraine herauszubekommen. Das ist nicht nur im Interesse der dortigen Bauern. Vertreter der Kiewer Regierung haben im Landwirtschaftsausschuss von recht positiven Ernteschätzungen berichtet. Die Speicher sind aber nach wie vor voll. Wenn wir es nicht in ausreichendem Maß bewerkstelligen können, das Erntegut aus dem Land zu bekommen, müssen wir vor Ort schnell aufzubauende Silos errichten, um für die neue Ernte Platz zu schaffen.

Sie zeichnen ein eher trübes Bild. Wie hat sich denn der Export über den Land- und Flussweg seit Kriegsbeginn entwickelt?
So schlecht nun auch wieder nicht. Im März wurden etwas mehr als 200.000 Tonnen Getreide aus der Ukraine verbracht; mittlerweile sind es rund 1,5 Millionen Tonnen im Monat. In normalen Zeiten waren es allerdings 5 Millionen Tonnen. Die wichtige Alternativroute via Schiff über die Donau müsste noch besser werden, samt Transport der Ware zu den dortigen Häfen. Aber auch das hat seine Grenzen. Ein Schiff fasst 16.000 Tonnen Getreide, ein Lastkraftwagen lädt 20 Tonnen. Es ist also nicht einfach, Alternativen zum Transport über die Seehäfen zu etablieren. Auch der Transport über die Schiene ist wegen der unterschiedlichen Spurweiten und die dadurch notwendige Umladung wenig effizient.

Das lstanbuler Abkommen zur Aufhebung der Seehafenblockade für den ukrainischen Agrarexport auf Vermittlung der Türkei und der UNO hat bei manchen Hoffnungen geweckt. Erste Schiffe haben die Ukraine verlassen. Für wie stabil halten Sie diese Entwicklung?
Das werden wir in den nächsten Tagen und Wochen sehen. Sollte es funktionieren und etwa der Hafen von Odessa wieder genutzt werden, wäre das natürlich ein entscheidender Schritt nach vorne.

Die FAO warnt seit langem davor, dass Hungerkrisen auf politische Konflikte wie diesen zurückgehen oder verstärkt werden. Die Zahl der Hungernden auf der Welt steigt, auch als Folge des Krieges in der Ukraine. Sehen Sie eine besondere Verantwortung der EU mit ihren agrarischen Gunstlagen, dem entgegenzuwirken?Ich glaube schon, dass wir in Brüssel das Thema Produktion und Versorgungssicherheit in den vergangenen Jahren fast vollkommen ausgeblendet haben. Wir haben in der EU-Agrarpolitik zuletzt vor allem über Umweltpolitik geredet. Wie die Produktivität gesteigert und mit Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden kann, diese Frage wurde nicht gestellt. Jetzt steht die Ernährungssicherheit aber auf der Agenda wieder ganz oben, und das ist auch richtig so.

In Brüssel wurden Die Themen Produktion und Versorgungssicherheit in den vergangenen Jahren fast vollkommen ausgeblendet.

Wie geht es jetzt weiter?
Ich persönlich habe lange bevor Russland die Ukraine angegriffen hat, darauf gepocht, dass nicht nur die ökologische, sondern auch die ökonomische Nachhaltigkeit vorangebracht werden muss. Was wir brauchen, ist eine Kombination aus beidem. Mit der Farm-to-Fork-Strategie ist das vollkommen untergegangen. In diesem Strategiepapier der Kommission stand nichts davon, dass wir auch ausreichend Agrargüter produzieren müssen. Dieser Aspekt ist jetzt wieder zurück. Wir kehren ein Stück zur Realität zurück.

Was heißt das konkret?
Dass wir mit den nationalen GAP-Strategiepläne schauen, wie wir Gebiete mit schwierigen Produktionsbedingungen wieder aktivieren können. Viele Flächen sind für die Agrarproduktion bereits verlorengegangen. In Italien wurden vor 20 oder 30 Jahren entlang des Apennins und auch in den Alpen noch viele Flächen bewirtschaftet. Auch weil man in Brüssel diese Regionen nicht mehr auf dem Radar hatte, wurde die Landwirtschaft dort aber vielfach eingestellt. Außerdem müssen wir innovationsfreudiger werden. Nehmen Sie das Genome-Editing. Großbritannien will dieses jetzt gesetzlich schnell voranbringen. Wir in der EU reden darüber, dass wir vielleicht Ende 2023 dazu einen Gesetzesvorschlag auf dem Tisch haben. Das dauert viel zu lange.

Wie sehen Sie die von der EU-Kommission eingeräumte Möglichkeit, die Branche- und den Fruchtwechselpflicht 2023 auszusetzen?
Ich halte die Regelung für dringend notwendig.

Kritiker wenden ein, dass damit der Klimawandel oder das Artensterben negiert werden.
Es stimmt, dass der Krieg in der Ukraine nicht die einzige Krise ist. Im Süden Europas hat eine Dürre ein historisches Ausmaß angenommen. Die diesjährigen Erntedaten bei Getreide in Italien sind gelinde gesagt dramatisch. Auch in der gesamten EU werden wir eine sehr viel niedrigere Ernte einfahren. Deswegen ist es jetzt wichtig, flexibel zu sein und zu sagen, dass die Welt nicht untergeht, wenn man ein Jahr lang auf Vorrangflächen verzichtet.

Die Dürre ist wahrscheinlich ebenso ein Resultat des Klimawandels wie 2021 in Deutschland die Starkregenereignisse mit dramatischen Folgen. Kann sich die EU eine Verschiebung von Ökomaßnahmen wirklich leisten?
Nein, ich denke wir sollten auch nicht auf Teufel komm raus einfach losproduzieren. Aber im Zweifelsfall speichert ein Maisfeld deutlich mehr Kohlendioxid als eine Vorrangfläche. Wo soll das Problem sein, dass wir auf manche Vorrangfläche jetzt befristet verzichten?

Im Zweifelsfall speichert ein Maisfeld deutlich mehr Kohlendioxid als eine Vorrangfläche.

Vielleicht ist es ein Problem für das fortschreitende Artensterben?
Wenn wir auf manche Vorrangflächen verzichten, kann das Auswirkungen auf die Biodiversität haben. Das erkenne ich an. Aber welche Auswirkungen das auf den Klimawandel haben soll, das erschließt sich mir wirklich nicht, weil die Kohlenstoffspeicherung und die Photosynthese auf einem bearbeiteten Feld doch deutlich höher sind als auf einer nicht bearbeiteten Fläche.

Agrarkommissar Wojciechowski geht von einem pünktlichen Start der GAP ab 2023 aus. Derzeit laufen die Abstimmungen der Mitgliedstaaten zur Genehmigung der GAP-Strategiepläne. Bei manchen wächst die Sorge, dass die GAP weiter zersplittert. Teilen Sie diese Befürchtung?
Ich war nie ein Fan dieses Modells und sehe die Rückgabe von Kompetenzen an die Mitgliedstaaten kritisch. Das G in der GAP für Gemeinsam darf nicht aus unserem Blickwinkel verlorengehen. Allerdings wurde politisch entschieden, in diese Richtung zu gehen. Ich denke, auch die Kommission muss das jetzt respektieren. Ihre Aufgabe ist es jetzt, genau zu schauen, ob die Pläne den gesetzlichen Grundlagen entsprechen oder nicht.

Die Kommission hat doch bereits teils sehr scharfe Kritik gegenüber den Mitgliedstaaten geübt, oder nicht?
Die Brüsseler Behörde vergisst manchmal, dass die Farm-to-ForkStrategie ein Papier ist, das in einem ihrer Hinterzimmer irgendjemand geschrieben hat. Es hat keinerlei gesetzliche Gültigkeit und ist von keinem Parlament, Rat oder sonst wem beschlossen worden. Dass man jetzt sagt, das ist die Strategie und die muss umgesetzt werden – wo steht das geschrieben? Ich halte das für absurd. Die Kommission hat sich unter anderem die Ausweitung der ökologischen Anbaufläche auf 25 Prozent bis 2030 einfallen lassen. Das Europaparlament hat aber sowohl zur Farm-to-Fork-Strategie als auch bei der GAP-Strategieplanverordnung diesem 25 Prozent-Ziel nicht zugestimmt. Dennoch tut die Kommission so, als wäre diese Zahl in Stein gemeißelt. Dabei unterstütze ich sehr wohl die Biolandwirtschaft, auch weil ich aus einer Region komme, wo wir sehr viel Ökolandbau haben.

Sie sind Südtiroler. Wie bewerten Sie Italiens GAP-Strategieplan?
Dieser hat für unsere Berglandwirtschaft eine sehr positive Auswirkung, weil er zu einer besseren Behandlung schwieriger zu bewirtschaftender Flächen im Berggebiet führt. Daher hoffe ich, dass der Plan nun möglichst schnell von der Kommission genehmigt und ab 2023 in Kraft treten wird.

Erwarten Sie eine Verzögerung, gar Verschiebung des GAP-Reformstarts?
Ich rechne nicht damit.

Wie stehen Sie zur Einladung der EU an die Ukraine für Beitrittsgespräche?
Das ist zunächst nicht viel mehr als ein Symbol an Kiew. Wir wollen das Land an die EU binden und uns solidarisch zeigen.

Sie rechnen also nicht mit einem schnellen Beitritt?
Nein! Ich wäre auch strikt dagegen. Bei aller Dramatik muss erst einmal klar sein, wie der künftige Status des Landes aussehen wird. Ist der zukünftige souveräne Staat die Ukraine von heute oder sind es nur Teile des Landes? Wir sollten auch auf die Beitrittshistorie anderer Länder schauen. Vor 25 Jahren gab es Krieg am Balkan. Diese Staaten sind nun seit Jahrzehnten EU-Beitrittskandidaten, ohne dass wir ihnen einen Fast-Track-Beitritt gestattet haben. Wir werden der Ukraine helfen und hoffen, dass der Krieg bald vorbei ist. Dann muss die Ukraine den Pfad der Demokratisierung und Grundfreiheiten weiter gehen. Alles andere wäre ungerecht gegenüber jenen Ländern, die seit längerem in der Warteschleife hängen.

 

| Herbert Dorfmann, 53, gebürtig aus Südtirol, ist seit 2009 Abgeordneter im Europaparlament und seit 2019 auch Agrarsprecher der italienischen und österreichischen Fraktion in der Europäischen Volkspartei.|

- Bildquellen -

  • Herbert Dorfmann: European Union 2022 - Source : EP
- Werbung -
AUTORRed. BW
Vorheriger ArtikelEiermarkt KW 33/’22: Eigenversorgung auf Rekordniveau
Nächster ArtikelWasser: Streit- und Produktionsfaktor