Wie viele Tierrisse durch Wölfe gab es heuer, wie ist die Saison auf den Almen verlaufen?
GRILL: Insbesondere in Tirol und in Kärnten haben die Bäuerinnen und Bauern bisher einen sehr blutigen Almsommer erlebt. In Kärnten stehen wir bei mehr als 250 Rissen, in Tirol wurden mehr als 400 gezählt und es werden noch sehr viele Tiere vermisst. Im Summe gab es bisher mehr als 600 Rissen, das ist ein neuer Höchststand. Sogar ein 300 Kilogramm schwerer Ochse war in Tirol dabei. Der Hotspot ist Ost-Tirol, dort werden die Fälle, die genetisch nachweisbar sind, immer mehr. Das Großraubtier Wolf entwickelt sich damit zu einem gesamtgesellschaftlichen Thema. Es geht nicht nur um die Viehhalter und ihre Tiere auf den Almen. Der Wolf wird zunehmend ein Sicherheitsthema für die Bevölkerung, ihre Freiheit und der Nutzung der Natur für die Naherholung. den Tourismus und die Gäste, die zu uns kommen. Und für unsere Lebensmittel aus dem Alpenraum, deren Produktion einzigartig ist und ein globaler Wettbewerbsvorteil. Der Druck auf all das wird größer. Wir müssen uns insbesondere auch beim Wolf fragen, ob dessen erzwungene unkontrollierte Ausbreitung in Österreich weiterhin ohne die Zustimmung und Einbeziehung der betroffenen Bevölkerung stattfinden soll. In der Schweiz hat sich 2020 bei einer Volksabstimmung zur Verschärfung des Jagdgesetzes gezeigt, dass in jenen Landesteilen, in denen Wölfe vorkommen, es ein klares Ja für die Liberalisierung des Jagdgesetzes gegeben hat. In den wolfsfreien Regionen und einigen Städten gab es ein Nein zum Vorschlag. In Summe fiel die Entscheidung ganz knapp mit etwas über 50 Prozent für ein Nein zur Novelle aus. Was ist in der Folge passiert? Auch die Politik in der Schweiz hat gesehen, dass man ein so knappes Votum nicht ignorieren kann. In weiterer Folge sind die Spielräume im Jagdgesetz so erweitert worden, dass auch die Entnahme dieser Problemwölfe heute leichter stattfinden kann als es vor zwei Jahren der Fall war. Voraussichtlich gibt es ab 2023 eine Bestandsregulierung, weil die Schweizer bereits genug Wölfe haben.
Warum fühlt sich der Wolf auf den Almen besonders Wohl?
Im Alpenbereich haben wir viel Nahrung für den Wolf: Sehr viel Wildtiere, eine hohe Schalenwilddichte und natürlich auch sehr viele Nutztiere auf der Alm. Alleine in Salzburg haben 60 Prozent der viehhaltende Betriebe eine Futtergrundlage auf der Alm. Die Almwirtschaft ist nichts was man ein und ausschaltet, sondern oft ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Betriebe und somit für diese eine Existenzfrage. Wir haben Milliarden an Geldern hineingepumpt, um diese Strukturen zu erhalten, weil sie nachhaltig, naturnahe und schonend für unsere Lebensgrundlagen sind. Das alles würde mit dem Wolf außer Kraft gesetzt werden.
Ist es richtig, dass viele Risse bereits in Tallagen stattfinden?
Das schwankt, je nachdem, wo die Wölfe gerade im Jahresverlauf daherkommen. Wir haben in Salzburg erlebt, dass wir im April, Mai viele Risse gehabt haben und in der Almsaison dann weniger oder genau umgekehrt. Es kommt also ganz auf den Wolf an.
Der Wolf kommt auch den Menschen nahe, er ist ja immerhin ein Kulturfolger. Resultiert daraus tatsächlich eine Gefahr?
Egal ob die Gefahr statistisch gesehen wahrscheinlich ist oder nicht, haben wir eine sehr subjektive Wahrnehmung von diesen Dingen. Ich halte es für unzumutbar, dass Kindergartenleiterinnen darüber entscheiden sollen, ob sie in einem Wolfsgebiet einen Waldspaziergang mit den Kindern machen können und man ihnen seitens Gemeinde antworten muss, dass die Verantwortung ganz bei ihnen liegt. Das Problem ist noch nicht die unmittelbare Gefährdung, sondern jenes, dass die Menschen sich extrem unwohl fühlen sobald Wölfe in Siedlungsgebieten auftauchen. Auch wenn ein Angriff nicht besonders wahrscheinlich ist, kann es ja wohl nicht sein, dass Kinder keinen Waldspaziergang mehr machen können. Wenn dann Experten sagen, die Wahrscheinlichkeit sei so gering, kann ich nur die Gegenfrage stellen: Warum gibt es dann Verhaltensregeln für das Aufeinandertreffen mit Wölfen? Erst kürzlich hat ein Biologe aus dem Innsbrucker Alpenzoo gemeint, dass man Klatschen, schreien und einen Stein werfen solle, wenn ein junger, neugieriger Wolf nicht weggeht. Man muss die Gesellschaft fragen, ob auch sie das will…
Österreich hat eine Population von rund 40 registrierten Wölfen. Wildbiologen gehen davon aus, dass die Population exponentiell wächst. Was sind Ihre Erfahrungen?
Laut einer Studie der Boku aus 2018 müssen wir damit rechnen, ohne Managementmaßnahmen in Österreich in zehn Jahren bis zu 500 Wölfe zu bekommen. Das ist eine wahnsinnige Frequenz. Ich behaupte, dann gibt es keine Berglandwirtschaft mehr in dieser Form. Dann wird auch die Bevölkerung stark spüren, dass Zustände eintreten, wie wir sie heute aus manchen Bundesländern in Deutschland kennen. Dort ist es ganz normal, dass am helllichten Tag ein Wolf durchs rennt. Man kann die Leute dort fragen, was sie davon halten. Und das sollten wir auch bei uns tun.
Wie kann bei uns Wolfsmanagement gelingen?
Bei allen Wildtieren haben wir eine grundlegende Tradition, dass wir das Management auf Basis einer wildökologischen Raumplanung machen. An bestimmten Standorten kann ein Tier sein, an anderen Standorten kann es nicht sein, weil die Konflikte zu häufig oder zu groß sind. Das macht man beim Rotwild in Salzburg, auch beim Gamswild, bei anderen Schalenwildarten. Das muss man pragmatisch sehen. Denn wo ist der Unterschied zwischen einem Raubtier Wolf und einen Rotwild wie dem Hirsch? Der Wolf ist ein großer Fleischfresser. Da muss man erhöhte Sensibilität auf die Konflikte legen. Das hat man in diversen Managementplänen schon versucht abzubilden.
Welche Rolle spielt in Zukunft der Herdenschutz?
Der Herdenschutz ist keine flächendeckende Lösung. Das kann man jetzt schon anhand der Vergleiche mit der Schweiz, Frankreich oder osteuropäischen Ländern sagen. Das liegt auf der Hand, weil die Kapazitäten beim Personal nicht da sind, weil man das aus geographischen und physikalischen Gründen nicht schaffen kann. Ein kürzlich in der Schweiz erschienener Bericht zeigt, dass die Anzahl der Übergriffe auf geschützte Herden nach einer gewissen Zeit wieder steigt. Dieses Wettrüsten mit Zäunen, Hunden und Hirten ist am Ende des Tages flächendeckend nicht sinnvoll, um die Tiere zu schützen. In Frankreich passieren 96 Prozent der Übergriffe bei geschützten Herden. Das funktioniert also nicht. Der Wolf als unglaublich intelligentes und anpassungsfähige Raubtier macht das Wettrüsten gut mit. Schlussendlich werden wir uns trotz des Wettrüstens ergeben müssen. In Tallagen kann man Zäune betreiben, überall anders muss man sagen, dass diese Methoden nicht funktionieren. Deswegen brauchen wir die Entnahmen. Die Schweiz erlaubt bereits den Eingriff, bevor schwere Schäden drohen. Das müssen wir auch machen.
Was kostet der Herdenschutz den Bauern oder auch den Steuerzahlern?
Wäre Herdenschutz eine Option für viehhaltende Betriebe, würde sich die Bauern dem nicht verschließen. Wir haben das für Salzburg bereits ausgerechnet. Da liegen wir bei jährlichen Kosten von 36 bis 90 Millionen Euro für Zäunung und ständige Behirtung. Da sind noch keine Hunde und keine baulichen Maßnahmen dabei. Die Höhe dieser Kosten ist völlig absurd, die Gesamtsumme geht über ein Drittel der jährlichen Agrarzahlungen hinaus, die wir im Land Salzburg haben. Und es gibt schlichtweg das dafür benötigte Personal und die helfenden Hände nicht mehr, die das bewerkstelligen müssten. Deshalb geht diese Forderung nach mehr Herdenschutz ins Leere.
Hätten wir in den vergangenen zehn Jahren die Menschen dazu ausgebildet, würden wir beim derzeitigen Populations-Wachstum trotzdem niemals hinterherkommen?
Wir haben kaum noch bäuerliche Arbeitskräfte, schon gar nicht mit einer 40 Stunde-Woche. Selbst von 60 Stunden ist da keine Rede mehr, es braucht 80 oder 100 Stunden pro Woche, um überhaupt die bisherige Bewirtschaftung in dieser naturnahen und kleinräumigen Situation aufrechtzuerhalten.
Wie kann man Bäuerinnen und Bauern helfen, wenn Nutztiere gerissen werden? Was kann und soll die Politik tun?
Die Agrarpolitik in Österreich hat schon unglaublich viel getan, auch wenn manche Gruppen das anders sehen. Es gibt kein Land in Europa, das in so einer frühen Phase der Ausbreitung von Wölfen so umfassend über die Folgen nachgedacht hat und Managementpläne, Vorgangsweisen, Richtlinien, Entschädigungsförderrichtlinien und natürlich auch Möglichkeiten zu Entnahme von Problemwölfen erarbeitet oder erörtert hat. Das Problem, das ich sehe ist, dass letztlich manche NGO durch ihre permanenten Einsprüche gegen Management-Vorschläge dafür gesorgt haben, dass hier extrem viel Zeit verloren ging, um das Management der Raubtiere einzuleiten. Ich persönlich sehe das deshalb sehr kritisch, weil in derselben FFH-Richtlinie, in der der strenge Schutz verankert ist, auch die Ausnahmen verankert sind. Die will man offensichtlich mit allen Mittel unmöglich machen. Das ist extrem unfair den Betroffenen gegenüber und auch undemokratisch. Wie kann es sein, dass sich in den Landtagen von Salzburg, Tirol oder auch Kärnten alle Parteien sagen, unter vereinbarten Bedingungen sprechen wir uns für eine Entnahme aus, und dann gibt es einen Einspruch von einer Gruppe aus Wien, die unter einem formalen Vorwand diesen in völligem politischen Konsens beschlossenen Weg torpedieren und unmöglich machen. Das halte ich für extrem unfair.
Wie war das mit der FFH-Richtlinie?
Heute muss man die FFH-Richtlinien natürlich anders interpretieren als 1993, weil der Wolf mittlerweile auf der roten Liste nicht mehr als gefährdet geführt wird. In der Präambel der FFH-Richtlinie steht, sie dient dem Schutz der Biodiversitäten, der Arten und der Lebensräume. Aber all das nur unter Beachtung der regionalen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Das findet nicht statt, wenn über die Köpfe der Betroffenen hinweg jeder Vorwand genutzt wird, um eine Entnahme zu konterkarieren. Daran sieht man auch, wie unflexibel die FFH-Richtlinie ist: Während die Roten Listen geändert worden sind, ist die FFH-Richtlinie nicht geändert worden. Das ist völlig an der Realität vorbei und gehört angegangen. Die Mühlen in Brüssel mahlen extrem langsam. Der Spielraum für solche formalen Einspruchsmöglichkeiten muss langsam geschlossen werden. Das hat leider schon sehr viel Zeit gekostet.
Dass die agrarpolitische Interessensvertretung aktiv ist, sieht man, wenn man durch Tirol fährt. Auf jedem Stall hängt ein Plakat zum Thema Wolf. Muss man vielleicht daran arbeiten, nicht zu versprechen, den Wolf komplett wieder weg zu bekommen?
Das geht auch gar nicht, das ist den meisten klar und auch nicht das Ziel. Wir müssen den Wolf dort eingrenzen, wo wir Berglandwirtschaft machen können. Eine Koexistenz zwischen Menschen und Raubtieren zu fordern ist aber völlig absurd, weil es eine solche noch nie gegeben hat. Entweder Raubtier oder Almviehhaltung. Beides wäre, siehe Frankreich, nur möglich, wenn wir die Struktur komplett verändern. Das hat aber mit der bäuerlichen Berglandwirtschaft, wie wir sie jetzt haben, überhaupt nichts zu tun: Frankreich hat heute eine Landwirtschaft, die wir in Österreich nicht haben wollen. Dabei handelt es sich um eine industrialisierte Form der Landwirtschaft. Wenn wir wegen dem Wolf auch eine solche bekommen, dann ist aus meiner Sicht etwas sehr falsch gelaufen.
Wie geht es weiter?
Ich glaube, dass wir in den nächsten Jahren praktikable Lösungen bekommen werden. Das zeichnet sich in allen Ländern ab. Bei uns wird das auch früher passieren anderswo, nicht perfekte, aber akzeptable Lösungen im Umgang mit Großraubtieren im Alpenraum. „Bauer, halt aus!“ ist glaub ich ein zeitloser Rat.
Was könnten auch die Wirtschaft oder der Tourismus dazu beitragen?
Ich glaube, dass man im Tourismus sehr wohl die Folgen erkennt und sich auch politisch dazu äußern wird. Er hängt schließlich an einer negativen Entwicklung der Almwirtschaft dran. Die Tourismus-Vertreter nehmen natürlich nicht vorrangig die Aktionsrolle ein. Aber es ist wichtig, dass ein Schulterschluss aller Betroffenen erfolgt.
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