Extensive Biolandwirtschaft liegt voll im Trend, gerade in den reicheren Ländern Europas. Gleichzeitig müssen künftig weltweit immer mehr Menschen ernährt werden. Diese Zwickmühle wirft Fragen auf. Urs Niggli, streitbarer Agrarwissenschaftler aus der Schweiz und ein Vordenker des Biolandbaus, gibt in seinem neuen Buch „Alle satt“ unkonventionelle, teils brisante Denkanstöße. Auch im Gespräch mit ProHektar.
Ernährung hat immer zwei Komponenten: Qualität und Quantität. Der Biobereich wird mit gesunden Nahrungsmitteln in Verbindung gebracht. Sind sie wirklich besser als jene aus konventioneller Produktion? Ist das wissenschaftlich belegbar? Niggli: Die Qualität der Lebensmittel ist ein ganz wesentlicher Eckpfeiler der biologischen Landwirtschaft. Die konventionellen Landwirte haben hier aber dazu gelernt, die Unterschiede sind deutlich kleiner geworden. Aus wissenschaftlicher Sicht liegen die Hauptunterschiede in den Rückständen von Pflanzenschutzmitteln. Nun kann man darüber diskutieren, ob diese für die Gesundheit relevant sind. Konsumenten und Biobauern haben da eine klare Meinung: Rückstände von Pflanzenschutzmitteln gehören nicht in Lebensmittel. Es gibt auch Unterschiede im Bereich der sekundären Pflanzenstoffe, der Antioxidantien, die im Menschen Zellen vor dem Angriff durch Radikale schützen. Laboruntersuchungen zeigen klar, dass diese sekundären Metaboliten in höheren Gehalten in Bioprodukten vorkommen. Die Pflanzen brauchen nämlich ein stärkeres Abwehrsystem, wenn sie nicht mit Pflanzenschutzmitteln behandelt werden und reagieren mit der Produktion von solchen Stoffen. Sonst gibt es relative wenige oder nicht signifikante Unterschiede zwischen konventionell und biologisch erzeugten Produkten.
Unterm Strich müsste der Konsum von Biolebensmitteln also die Gesundheit fördern? Die Frage, ob eine lebenslängliche Ernährung mit biologischen Produkten zu einer messbar höheren Gesundheit führt, kann niemand seriös beantworten. Viel entscheidender ist die Zusammensetzung unserer Diät, insbesondere mehr pflanzliche und deutlich weniger tierische Produkte, genügend rohfaserreiche Produkte, ein hoher Gemüse- und Früchteanteil, viel frisch verarbeitete und weniger Convenience-Produkte. Weil Biokonsumenten diesbezüglich auch ein höheres Bewusstsein haben, bin ich mir sicher, dass sie im Schnitt gesünder sind.
Der Biolandbau verzichtet auf Mittel und Methoden der konventionellen Landwirtschaft, um die Umwelt zu schonen. Daraus resultieren auch geringere Erträge. Um wie viel niedriger sind diese? Hierzu gibt es viele Daten aus Langzeitfeldversuchen, aber auch aus Betriebsvergleichen. Sie zeigen klar, dass auf schlechteren Standorten im Ackerbau und grundsätzlich im Futterbau die Ertragsunterschiede etwas kleiner sind, um vielleicht 10 bis 15 Prozent. Je besser die Bodeneigenschaften und klimatischen Bedingungen sind, umso größer werden die Ertragsunterschiede. Je nach Kultur können die Erträge dann um bis zu 50 Prozent abnehmen. Im Durchschnitt aller Kulturen und Standorte bringen biologisch bewirtschaftete Flächen 20 bis 25 % weniger Ertrag.
Die Potenziale moderner Gentechnik sind beeindruckend, von der Humanmedizin bis zur Pflanzenzüchtung. In der Biolandwirtschaft ist Gentechnik aber generell tabu. Könnte sie nicht auch einen Beitrag zur nachhaltigen Absicherung von Erträgen liefern? Die biologische Landwirtschaft hat bekanntlich ein paar Alleinstellungsmerkmale: keine chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmittel, keine synthetischen Stickstoffdünger, keine Gentechnik, dafür eine artgerechte Tierhaltung. Das sind einfache Botschaften, die man Konsumenten gut kommunizieren kann. Auf die Gentechnikfreiheit als eines dieser vier Alleinstellungsmerkmale würde ich nicht verzichten, schon aus kommerziellen Überlegungen und um den Biolandbau entsprechend zu positionieren. In der konventionellen Landwirtschaft haben aber neue Züchtungsmethoden, wie die Genom-Editierung, ein enormes Potenzial. Man sollte hier nicht nur über Risiken diskutieren, sondern auch über Chancen.
Ein anderes strittiges Thema sind die in Bio grundsätzlich verbotenen
chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmittel. Im Bioweinbau darf nicht mehr mit Kaliumphosphonat gespritzt werden, mit dem „natürlichen“ Schwermetall Kupfer hingegen schon. Eine „Spiegel -Online“-Redakteurin schrieb: „Ein Schwermetall, das sich im Boden anreichert und Regenwürmern schaden kann, ist bio. Ein selbst von Öko-Verbänden als unbedenklich eingeschätztes anorganisches Salz ist es nicht.“ Braucht es da neue Ansätze? Auf mehr als 90 Prozent der Flächen kommt der Biolandbau ohne chemischen Pflanzenschutz gut aus. Aber in einigen Sonderkulturen haben wir zweifellos Krücken. Eine davon ist Kupfer, ein Schwermetall, das in der konventionellen Landwirtschaft ebenso noch genützt wird. Die bisherige Forschung zu Kupferersatz hat noch wenige konkrete Ergebnisse gebracht. Wenn eine natürliche, ökologisch harmlose und wirksame Substanz als mögliche Alternative gefunden wurde, haben immer noch andere Gründe dagegen gesprochen: Zulassungs-, Produktionsprobleme, auch wirtschaftliche Gründe. Die Forschung hat allerdings gezeigt, wie wir von sechs bis acht Kilogramm Reinkupfer pro Hektar und Jahr auf zwei bis drei, höchstens vier Kilogramm runtergehen können. Das Kaliumphosphonat war etwas, das wir am FiBL Schweiz 1990 entwickelt und ausprobiert haben und wovon wir damals hell begeistert waren. Eine einfache anorganische Substanz, die uns ökologisch unproblematisch erschien. Was wir allerdings später festgestellt haben ist, dass es zu hohen Rückständen führen kann. Auch wenn sie gesundheitlich völlig unbedenklich sind, stellt sich die Frage: Soll man Bioprodukte an analytisch nachweisbaren Pflanzenschutzmittelrückständen erkennen?
Zum Kernthema Ihres neuen Buches: Derzeit müssen acht Milliarden Menschen ernährt werden. In 30 Jahren werden es voraussichtlich zwei Milliarden mehr sein. Kann das die Biolandwirtschaft auch alleine? Theoretisch könnte man mit Biolandbau auch 10 Milliarden Menschen ernähren, wenn man sich konsequent nachhaltig ernähren würde. Das hieße etwa Abfälle halbieren, nichts verschwenden, das Grünland über Wiederkäuer nutzen, vor allem an Schweine und Hühner nur Nebenprodukte verfüttern, kein Kraftfutter mehr einsetzen. Bis das alles umgesetzt ist und die Menschen begriffen haben, dass Lebensmittel nicht verschwendet werden dürfen, sondern ein wertvolles Gut sind, gehen aber noch zumindest zwei Generationen ins Land.
Die Biolandwirtschaft ist also nicht die Lösung des globalen Problems … Realistischerweise nein. Auch aus anderen Gründen. In Österreich hat der Biolandbau zwar einen Flächenanteil von 26,5 Prozent, weltweit aber nur von 1,5 Prozent. Es ist zur Zeit also nicht denkbar, dass Biolandbau global zum Mainstream wird. Ebenso, dass man mit einem Ertragsdefizit von 20 bis 25 Prozent sehr viel mehr Menschen in der Zukunft ernähren kann und dass man weltweit die Preisdifferenz zu konventionellen Lebensmitteln verkraften kann, vor allem, was die ärmere Bevölkerung betrifft. Für eine nachhaltige Landwirtschaft brauchen wir neben Biolandbau Ökologisierungsstrategien für die konventionelle Landwirtschaft. Ich nenne das im Buch auch Agrarökologie. Man könnte das auch als einen neuen 3. Weg bezeichnen. Mit der integrierten Produktion sind wir leider gescheitert.
Inwiefern? Was spricht gegen die integrierte Produktion? Die Ideen, eigentlich die Prinzipien des integrierten Pflanzenschutzes, waren grundsätzlich gut: Zuerst vorbeugende Maßnahmen, dann nicht chemische Maßnahmen und zuletzt nötigenfalls chemischer Pflanzenschutz. Leider hat man in der Praxis aber die Pyramide auf den Kopf gestellt. Die erste Wahl ist in der Regel der chemische Pflanzenschutz. Die konventionelle Landwirtschaft muss, ohne dass sie ihre Produktivität verliert, sehr viel mehr Elemente des Biolandbaus übernehmen. Dazu kommt noch der technische Fortschritt. Vielleicht ist das die Lösung für das globale Problem: Biolandbau plus Hightech. Daran würde ich gerne arbeiten.
Sie fordern in Ihrem Buch einen radikalen Wandel der GAP. Was ist so falsch an der EU-Agrarpolitik? Der überwältigende Anteil ist reine Einkommensstütze der Landwirte, ohne Lenkungseffekte. Das halte ich weder für berechtigt noch für zukunftsträchtig. Man muss die Direktzahlungen langsam zurückfahren und sich auf die Förderung der öffentlichen Güter und auf den Umweltschutz konzentrieren.
Sie waren 30 Jahre FiBL-Chef in der Schweiz, bevor Sie vergangenes Jahr in Pension gegangen sind. Seither sind Sie Mitglied der „Scientific Group“ des UNO-Generalsekretärs zur Vorbereitung des „Food System Summit“ noch heuer in New York, dazu Direktor von agroecology.science, Berater bei Agroscope und neuer Obmann von FiBL Österreich. Wollen Sie denn nie in Pension gehen? Ich liebe meine Arbeit und möchte meine Erfahrungen weitergeben. Am liebsten möchte ich einmal mit einer Bahre aus dem Büro getragen werden. Bis es soweit ist, habe ich hoffentlich allerdings noch einige Zeit.
Zur Person: Urs Niggli leitete ab 1990 bis März 2020 das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick im Aargau, Schweiz. Nach seiner Pensionierung ist er neuerdings Obmann von FiBL Österreich.
ISBN: „Alle satt? Ernährung sichern für 10 Milliarden Menschen“, von Urs Niggli Residenz Verlag, 160 Seiten, 19 Euro. ISBN 9783701734191.
- Bildquellen -
- Urs Niggli: Agroscope