„Hof Nr. 4233. Ein langer Abschied“ ist ein Buch, wie man es heute nur noch selten zu sehen bekommt. So wie die Bauernhöfe sterben, ist auch diese eindringliche, unspektakuläre Art, zu sehen und zu fotografieren, beinahe verloren gegangen.

Die Gemeinde Kerzers im Kanton Freiburg in der Westschweiz ist heute die größte Gemüseanbaufläche der Eidgenossenschaft. Dieser landwirtschaftliche Zweig floriert, doch viele andere Betriebe mussten aufgeben – so etwa die meisten Milchbauern, von denen es einst noch mehr als 50 in Kerzers gab. Auch der Betrieb der Eltern des Fotografen Thomas Wüthrich, der Hof mit der amtlichen Betriebsnummer 4233, wurde vor 20 Jahren aufgelöst. Jetzt ist ein Buch erschienen, dass die letzten zwölf Monate des Betriebes, bis hin zur Auflösung, dokumentiert. Die Landwirtschaft ist heute alles andere als ein bevorzugtes Sujet der Fotografie. Umso interessanter ist dieses einzigartige Fotobuch. Es geht Wüthrich nicht unbedingt um bildnerische Innovation – trotz wirklich erstaunlicher Bildideen –, sondern um einen konzentrierten, ehrlichen Blick auf die tägliche Arbeit seiner Eltern. Bis ganz zum Schluss, bis zum Abtransport der letzten Kühe.

Quelle: Tomas Wüthrich
Hans hilft beim Einladen seiner Tiere, 2000.

Die Routine des bäuerlichen Lebens hat wenig mit Romantik zu tun. Doch gelegentlich schimmert die Schönheit eines solchen Daseins durch die Bilder Wüthrichs hindurch, auch wenn der Fotograf deutlich um eine sachliche Darstellung bemüht ist. Die hier gedruckten 73 Schwarzweißfotos sollen nicht nur individuelles Schicksal vorstellen, sondern auch das kollektive Bauernsterben und den tiefgreifenden Wandel vor Augen führen, in dem sich die Landwirtschaft nicht nur in der Schweiz befindet.

Quelle: Tomas Wüthrich
Hans und Ruth wischen gemeinsam das Tenn, 1999.

Wüthrich bevorzugt einen ungeschönten Blick auf die Arbeit, welche seine Eltern über drei Jahrzehnte hinweg ausgeübt haben. Und doch fällt auch ihm dieser „lange Abschied“ bis heute nicht leicht: „Ein paar Tage, nachdem die Kühe, die dreißig Jahre lang den Lebensrhythmus auf dem Hof vorgaben, den Stall verlassen hatten, haben meine Eltern den Stall ein letztes Mal geputzt. Sie haben die Kotspritzer von den Wänden gewaschen, die Spinnweben runtergebürstet und den Stall frisch (mit Kalk) geweißelt, wie sie das jeden Frühling gemacht haben. Ich habe viel fotografiert an diesem Tag. Irgendwann war alles getan, und die beiden waren müde. Mein Vater setzte sich auf die Futterkrippe, und meine Mutter stand daneben, das Putzzeug noch in der Hand, traurig und gewiss, dass etwas zu Ende ist.“

Quelle: Tomas Wüthrich
Wüthrichs lassen ihre Zuckerrüben seit 1996 von einem anderen Bauern mit einem Vollernter ausfahren, die Ernte nach alter Methode mit viel Handarbeit ist für sie zu anstrengend geworden. Seit der Zuckerrübenverlad auf die Bahn in Kerzers eingestellt worden ist, müssen die Bauern ihre Rüben selbst in die Zuckerfabrik nach Aarberg bringen. Dazu braucht es grosse Wagen und entsprechende Traktoren, wie sie Wüthrichs nicht haben. Ihr Kontingent von 50 Tonnen wird nach der Pensionierung unentgeltlich an einen anderen Bauern übergehen. Zuckerrübenkontingente sind nicht verkäuflich, werden aber halblegal gegen Milchkontingente getauscht, 1999.

Bereits vor 20 Jahren ist diese Langzeitreportage über ein Jahr hinweg entstanden, doch die Aktualität der Bilder ist immer noch bedrückend: Denn bis heute geben in der Schweiz immer mehr Bauern auf. 1905 zählte man noch fast 250.000 Bauernhöfe in der Schweiz, heute nur noch 50.000. Immer größer müssen die Höfe sein, um wettbewerbsfähig zu bleiben – eine auch ökologisch fatale Entwicklung.

Quelle: Tomas Wüthrich
Der Stall ist leer. Von den Kühen verbleiben nur noch die aufgewickelten Schwanzschnüre, 2000.

Ein berührender Aspekt der Bilder ist auch die Einheit von Bauer und Bäuerin, die gemeinsame harte Arbeit, das Miteinander des arbeitenden Paares. Milchwirtschaft und Ackerbau, das ist damals wie heute harte Arbeit, schwere Schufterei, die heute kaum noch jemand machen will. Viele Details über die damaligen Arbeitsprozesse erfährt man durch die Legenden am Ende des Bildbandes. Am Ende eines langen Bauernlebens bleibt ein leerer, ausgekehrter Stall. Die Kühe sind nicht mehr da, nur noch die aufgewickelten Schwanzschnüre. Bald wird der Stall als Brennholzlager dienen. „Hof Nr. 4233“ ist ein Buch, wie man es heute nur noch selten zu sehen bekommt. So wie die Bauernhöfe sterben, ist auch diese eindringliche, unspektakuläre Art, zu sehen und zu fotografieren, beinahe verloren gegangen. Unbedingte Empfehlung!

Quelle: Tomas Wüthrich
Hans Wüthrich holt den letzten Rest Grassilage bei einem Nachbarn, der zu viel Vorrat hat. Während der Käseproduktion, die im Mai beginnt, dürfen die Kühe kein siliertes Futter fressen. Alle Silos werden von der Käsereigenossenschaft kontrolliert, sie müssen leer und gewaschen sein, 1999.

Zur Person: Marc Peschke ist Kunsthistoriker, Buchautor und freier Journalist, er lebt in Hamburg und Wiesbaden. www.scheidegger-spiess.ch

ISBN: „Hof Nr. 4233. Ein langer Abschied.“, von Tomas Wüthrich, Verlag Scheidegger und Spiess, 168 Seiten, 48 Euro, ISBN 9783858816818.

- Bildquellen -

  • Hans hilft beim Einladen …: Tomas Wüthrich
  • Hans und Ruth wischen …: Tomas Wüthrich
  • Wüthrichs lassen ihre Zuckerrüben …: Tomas Wüthrich
  • Der Stall ist leer …: Tomas Wüthrich
  • Hans Wüthrich holt den letzten Rest Grassilage …: Tomas Wüthrich
  • Der Stall ist frisch geweisselt …: Tomas Wüthrich
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AUTORMarc Peschke
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