BauernZeitung NÖ: Herr Präsident, Herr Direktor, die Landwirtschaftskammer NÖ feiert heuer ihren 100. Geburtstag. Ein Grund zum Feiern, aber auch ein Grund, ein wenig auf die wechselvolle Geschichte der bäuerlichen Interessensvertretung zu schauen. Warum wurde die Landwirtschaftskammer NÖ gegründet?
Schmuckenschlager: Es ist kein Zufall, dass die Gründung der Landwirtschaftskammer und der Bezirksbauernkammern in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg erfolgt ist. Mit dem Zerfall der Monarchie waren die großen Kornkammern, wie Ungarn, Polen und Westrumänien, weggebrochen. Die Menschen in Österreich zu ernähren war zur großen Herausforderung geworden, die nur durch eine effizientere landwirtschaftliche Produktion im eigenen Land gemeistert werden konnte.
Raab: Die Jahre bis zum Zweiten Weltkrieg und danach waren geprägt von der systematischen Intensivierung der Produktion. Die Gründung von Absatz- und Verwertungsgenossenschaften wurde von der Landwirtschaftskammer aktiv gefördert. Immer wichtiger ist schon damals auch die Aus- und Weiterbildung der Bäuerinnen und Bauern geworden. Die Landwirtschaftskammer war daher auch maßgeblich am Aufbau des landwirtschaftlichen Schulwesens beteiligt.
Kann man Persönlichkeiten hervorheben, die sich bei der Gründung der Landwirtschaftskammer besonders verdient gemacht haben?
Schmuckenschlager: Als der NÖ Landtag im Februar 1922 die Errichtung einer „Niederösterreichischen Landes-Landwirtschaftskammer mit Bezirksbauernkammern“ beschlossen hat, war eine Vielzahl an Bauernbündlern als Mandatare dabei. Hervorzuheben ist da neben dem ersten Präsidenten Josef Zwetzbacher besonders Josef Reither, der bereits 1925 die Nachfolge Zwetzbachers an der Spitze der Landwirtschaftskammer antreten sollte.
Raab: In diesem Zusammenhang muss man auch den damaligen Bauernbundsekretär und späteren Bundeskanzler Engelbert Dollfuß erwähnen, der im Rahmen seiner nationalökonomischen Studien das Kammerwesen in Deutschland kennenlernte und dadurch große Expertise im Aufbau der Strukturen einbrachte. Auch wenn seine späteren Entscheidungen und Leistungen im Rahmen seiner politischen Karriere bis zu seiner Ermordung im Jahr 1934 nicht zu rechtfertigen sind, im Bereich der Landwirtschaftskammer hat er sich große Verdienste erworben.
Mit dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 musste die Landwirtschaftskammer ihre Arbeit einstellen. 1945 stand man erneut vor der dringlichen Aufgabe, die hungernde Bevölkerung zu ernähren. Wie hat die Landwirtschaftskammer darauf reagiert?
Schmuckenschlager: Die Landwirtschaft musste nach dem Zweiten Weltkrieg unter denkbar schlechten Bedingungen neu aufgebaut werden. Es mangelte praktisch an allem. Die Bezirksbauernkammern mussten erst wieder funktionsfähig gemacht werden. Die Landwirtschaftskammer setzte sich in erster Linie für eine Harmonisierung von Produktion und Bedarf ein. Dabei halfen die 1950 eingeführten Marktordnungsgesetze. Bei witterungsbedingten Ertragsverlusten unterstützt seit 1947 die Hagelversicherung. Mit der wirkungsvollen Starthilfe durch den „Marshallplan“ wurde das Ziel der Kammer erreicht: weitgehende Selbstversorgung und sogar ansteigender Agrarexport.
Raab: Wobei man schon wissen muss, dass das Geld des „Marshallplans“ nur durch die Landwirtschaftskammer, die sich durch ihre Selbstverwaltung auszeichnete, abgeholt werden konnte. Niederösterreich lag ja in der russischen Besatzungszone. In diese Besatzungsmacht und ihre Verwaltungsstrukturen hatten die Amerikaner kein Vertrauen. Ohne Landwirtschaftskammer hätte es für die Bäuerinnen und Bauern in Niederösterreich keine Unterstützung in diesem Ausmaß gegeben.
Die 1960er und 1970er-Jahre brachten schließlich die Wende.
Schmuckenschlager: Zunehmende Modernisierung und Technisierung steigerten die Produktivität. Seither gewinnen die multifunktionalen Leistungen der Landwirtschaft verstärkt an Bedeutung. Das heißt, es geht nicht mehr nur darum, die Produktion zu steigern, sondern um möglichst ressourcenschonende Produktion. Große Veränderungen hat der Landwirtschaft – und damit auch der Landwirtschaftskammer – der EU-Beitritt 1995 beschert. Die zunehmende Professionalisierung der Betriebe forderte auch eine Professionalisierung der Beratung.
100 Jahre sind eine lange Zeit, in der sich auch in der Land- und Forstwirtschaft viel verändert hat. Wo sind diese Veränderungen zu sehen?
Schmuckenschlager: Besonders markant ist die Anzahl der Menschen, die in der Land- und Forstwirtschaft arbeiten: Waren es 1922 noch mehr als 40 Prozent, sind es heute nicht einmal mehr sechs Prozent. Dementsprechend gewandelt hat sich der „Arbeitsplatz Bauernhof“ und auch das soziale Gefüge der Menschen. Wesentlich verändert hat sich zudem das Verständnis der Gesellschaft für die Arbeit der Bäuerinnen und Bauern. Nicht zuletzt deshalb, weil eben vielen Menschen der direkte Bezug zur Land- und Forstwirtschaft fehlt.
Raab: Was sich aber nicht verändert hat, ist der Auftrag der Landwirtschaftskammer in den Bereichen der Beratung, Bildung und Förderung. Als bäuerliche Interessensvertretung war und ist es immer noch unsere Aufgabe, Einzelinteressen zu einem großen Gesamtinteresse zusammenzuführen und zu vertreten. Und in den 100 Jahren hat sich bestätigt, dass sich die Bäuerinnen und Bauern selbst besser organisieren können, als jede andere staatliche Behörde es jemals könnte.
Auch wenn es in der Landwirtschaftskammer viel um fachliche Belange geht, braucht es politisches Verständnis und Interesse. Wie schwierig ist es, auf allen Ebenen geeigneten Nachwuchs für Funktionäre oder auch Mitarbeiter zu finden?
Schmuckenschlager: Viele junge Betriebsführerinnen und Betriebsführer sind bereit, sich in der Kammer und auch in den zahlreichen land- und forstwirtschaftlichen Verbänden und Organisationen einzubringen. Ganz einfach, weil es unsere Bäuerinnen und Bauern gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen. Und vielleicht auch deshalb, weil die Landwirtschaftskammer und die Bezirksbauernkammern greifbar für ihre Mitglieder sind und die Mitarbeit in der Kammer direkten Einfluss auf die Entwicklung der bäuerlichen Betriebe hat. Einzigartig sind hier Organisationen wie die Bäuerinnen und die Landjugend.
Raab: Bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist es uns wichtig, dass diese land- und forstwirtschaftliches Grundverständnis mitbringen und legen Wert darauf, dass sie sich im agrarischen Netzwerk engagieren. Die Konkurrenz um die besten Köpfe ist groß und wir wissen, dass wir diesen Wettbewerb nicht über die Gehaltshöhen gewinnen können. Wir versuchen daher ein besonders wertschätzendes und sinnstiftendes Arbeitsumfeld zu ermöglichen.
Was schätzen die Bäuerinnen und Bauern an „ihrer“ Landwirtschaftskammer und wofür gibt es Kritik?
Schmuckenschlager: Es ist vor allem die fachliche Expertise, die unsere Bäuerinnen und Bauern kennen und schätzen. So kann die Landwirtschaftskammer im Durchschnitt rund 250.000 Beratungs- und Bildungskontakte pro Jahr verzeichnen. Die Zusammenarbeit mit der Landesregierung funktioniert auf Augenhöhe, wovon auch unsere Mitglieder profitieren. Deswegen können wir auch behördliche Aufgaben im Auftrag der Landesregierung übernehmen. Dazu kommt, dass mit den Bezirksbauernkammern regionale Ansprechpartner zur Verfügung stehen, die bei Bedarf rasch erreichbar sind.
Dennoch kommt es auch vor, dass Mitglieder unzufrieden sind. Die einzelbetrieblichen Beratungen sind nun einmal sehr spezifisch und leider sind auch manchmal für den Betrieb unzufriedenstellende Entscheidungen notwendig. Wir suchen aber immer das persönliche Gespräch, um in solchen Fällen zu tragbaren Lösungen zu kommen.
Raab: Kritik ist für uns in jedem Fall zulässig. Denn nur so können wir gemeinsam in unserer Arbeit kontinuierlich besser werden. Außerdem ist Kritik für mich ein Zeichen, dass uns unsere Mitglieder bessere Arbeit noch zutrauen.
Wie wird das 100-Jahr-Jubiläum heuer noch gefeiert?
Raab: Unseren eigentlichen Geburtstag, am 22. Februar, können wir leider nur mit einer Festsitzung in kleinstem Rahmen feiern. Am 25. und 26. Juni sind wir landesweit bei den Bezirksfesten anlässlich 100 Jahre Land NÖ mit einem eigenen Landwirtschaftscorner vertreten und laden alle Interessierten ein, unser Jubiläum gemeinsam zu begehen. Dazu werden wir auch am 3. September beim Landhausfest in St. Pölten sowie am 11. September im Rahmen des Festgottesdienstes anlässlich des Dirndlgwandsonntags im St. Pöltner Dom auf „unseren“ Geburtstag aufmerksam machen.
Die Landwirtschaft im Wandel
Der Brotpreis ist heute mit 2,68 Euro pro Kilogramm rund zehnmal so hoch wie der 1918 amtlich festgelegte Preis von (umgerechnet) 0,27 Euro. Allerdings war Brot oftmals nur im Schleichhandel zu bekommen, wo (wieder umgerechnet) bis zu 3,18 Euro bezahlt werden musste.
Im Jahr 1914 musste ein durchschnittlicher Arbeiterhaushalt rund 58 Prozent seines Haushaltseinkommens für Nahrungsmittel ausgeben. Laut Statistik Austria waren es im Jahr 2021 12,8 Prozent (für Lebensmittel und alkoholfreie Getränke).
Im Jahr 1950 ernährte ein Bauer vier Menschen, im Jahr 2019 waren es bereits 98.
Die Landwirtschaftskammer war maßgeblich am Aufbau des Genossenschaftswesens beteiligt und von 1926 bis 2002 zuständig für die Revision.
Bereits 1923 erfolgte die Gründung der „Ersten n.oe. Brandschaden-Versicherungsaktiengesellschaft“. Die „NÖ Landes-Landwirtschaftskammer“ fungierte als Hauptaktionär. Zum Präsidenten wurde Josef Reither bestellt.
Mehr Infos zum Jubiläum:
100jahre.lk-noe.at
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- 11 01 07 22 NO: LK NÖ/Monihart