Astrid Thomsen, freie Agrarjournalistin aus Deutschland, hat im vergangenen Jahr mehrere Agrarbetriebe im Westen der Ukraine besucht. Nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat Thomsen nun mit zwei Betriebsleitern gesprochen, wie sie den Krieg um ihr Heimatland erleben.
Interview mit Elisabeth Seeba (38), Geschäftsführerin des landwirtschaftlichen Betriebes „TOV Korystivske“ im Dorf Ukrainka nahe der Stadt Riwne im Nordwesten der Ukraine. Der Agrarbetrieb mit 1.600 Hektar Ackerland hat drei deutsche Eigentümer und basiert auf 700 Pachtverträgen mit Laufzeiten von 10 bis 15 Jahren.
Seeba war vor Kriegsbeginn in Deutschland. In einem ersten Gespräch am Freitag, 25. Februar, einen Tag nach Kriegsausbruch, berichtete Seeba:
„Ich habe stündlich mit dem Angriff gerechnet, und als mein Mitarbeiter, der stellvertretende Betriebsleiter Vitaly Poliukhovych, morgens um 6.30 Uhr anrief, wusste ich sofort, was los ist. Wenn man keinen dritten Weltkrieg provozieren will, was selbstverständlich ist, dann ist die Ukraine verloren, und wir werden unter russischer Flagge dort arbeiten. Ob man uns lässt oder ob wir der russischen ‚Entnazifizierung‘ zum Opfer fallen, wird sich zeigen. Die Sanktionen werden unseren Betrieb dann jedenfalls auch hart treffen. Bisher sind all unsere Bekannten aber in Sicherheit. Vitaly wohnt mit seiner Frau und acht Freunden aus der Stadt nun auf unserem Betrieb in Ukrainka. So können wir wenigstens etwas helfen. Ich bin hilflos und sehr traurig.“
Erneuter Anruf am Donnerstag, 3. März, bei Seeba. Wie geht es ihr heute? Kann sie aktiv etwas tun, um die Lage des Betriebes und ihre eigene Lage zu verbessern?
„Es fühlt sich alles so unwirklich an. In den ersten Tagen des Krieges waren wir alle wie gelähmt vor Angst um unsere Freunde und Mitarbeiter. So langsam versteht man zumindest, wie Krieg funktioniert. Die erste Panik ist vorbei, und jeder findet seine Aufgabe. Es gibt wieder Hoffnung, dass das Wunder geschieht und die Ukraine es schaffen kann! Es ist unglaublich, wie die Ukrainer kämpfen! Und es ist natürlich gut, dass aus Europa nun doch mehr militärische Unterstützung kommt als gedacht.“
Wie ist die aktuelle Sicherheitslage in Ukrainka?
„In Ukrainka ist es ruhig. Die Zuwege ins Dorf wurden alle versperrt. Soldaten kontrollieren jeden, der ins Dorf will. In der Westukraine wurden in den ersten Tagen des Krieges ‚nur‘ militärische Einrichtungen und Flughäfen beschossen, die Detonationen waren bis ins Dorf zu spüren und zu sehen, und die Angst war groß. Beunruhigt sind die Menschen im Westen der Ukraine, besonders über die Truppen, die in Weißrussland an der Grenze stehen.“
Wie überraschend kam der Krieg für Seeba? Hat sie diese Entwicklung erwartet?
„Als ich Ende Januar in der Ukraine war, war mir schon sehr mulmig zumute, weil gerade in jenen Tagen auch eine Grafik kursierte, auf der man sehen konnte, wo überall russische Truppen stationiert worden waren und dass gerade auch noch in Weißrussland Truppen angekommen waren. Mir wurde also klar, dass ich mich in einem Land befand, das komplett umzingelt worden war. Das Auswärtige Amt in Berlin gab währenddessen auch seine erste Reisewarnung für die Ukraine heraus. Im Dezember hatte die Bild-Zeitung bereits Putins Einmarschplan in die Ukraine veröffentlicht. Der hatte mich auch schon ziemlich aus der Bahn geworfen. Vitaly gehörte zu den Wenigen, die ebenfalls sehr pessimistisch eingestellt waren.“
Was sind im Moment Frau Seebas größte Sorgen, gibt es Lösungen?
„Erstmal natürlich, dass Leute zu Schaden kommen, die wir kennen. Die ausländischen Landwirte in der Ukraine haben ein sehr gutes Netzwerk gebildet, in dem es darum geht, Frauen und Kinder aufzunehmen und bei der Flucht zu helfen. Außerdem wurden schon unglaublich viele Sachspenden gesammelt. Viele Ausländer haben ihren Betrieb in der Ukraine verlassen und tun nun alles, um ihre Wahlheimat zu unterstützen. Aber auch allgemein bin ich überwältigt, was alles in Deutschland gemacht wird, um in der Ukraine zu helfen.“
Wie können Sie mit Ihrem stellvertretenden Betriebsleiter Vitaly Poliukhovych in Kontakt bleiben? Gibt es dort noch einen “normalen” Arbeitsablauf?
„Ich bin mit Vitaly in ständigem Kontakt. Die Kommunikationsmittel funktionieren nach wie vor. Wir arbeiten auf den Feldern nur bei Tageslicht und erstmal nur in der Nähe unserer Basis. Die Landwirtschaft wurde als systemrelevant eingestuft, und ihre Mitarbeiter sollen wohl auch vom Kriegsdienst freigestellt werden. Was mich natürlich sehr erleichtern würde. Wir sehen es nun als unsere Aufgabe im Krieg, die Ukraine mit Lebensmitteln zu versorgen.“
Was wünscht sich Frau Seeba von der deutschen Regierung, von der EU, was von der Bevölkerung in Deutschland und Europa?
„Ich wünsche mir, dass das, was hier passiert, nicht in Vergessenheit gerät und auch nicht relativiert wird, so wie es ja leider 2014 passiert ist. Deutschland darf energetisch nicht länger abhängig sein von einem solchen Regime. Und natürlich braucht die Ukraine volle Unterstützung, um weiter durchhalten zu können. Und ich möchte noch gerne die Webseite erwähnen, auf der Tim und Torben, unsere deutschen Kollegen aus dem Raum Lviv, Sachspenden und Geld sammeln und persönlich dafür sorgen, dass alles dort ankommt, wo es gebraucht wird: www.kultus-verein.de
Am Donnerstag sprach Astrid Thomsen auch mit Vitaly Poliukhovych (31), dem stellvertretenden Betriebsleiter auf dem Betrieb TOV Korystivske in Ukrainka. Er studierte in der Ukraine Agronomie. In Bayern, in Weihenstephan-Triesdorf, hat er auch seinen MBA, „Master of Business Administration“, mit Schwerpunkt Landwirtschaft erworben. Wie ist seine aktuelle Lebenssituation?
„Ich lebe seit Kriegsbeginn mit meiner Frau auf dem Betrieb. Bei uns sind Menschen, die hierher geflüchtet sind: ein Ehepaar aus Kiew mit einem vierjährigen Kind und zwei Studentinnen, 18 und 21 Jahre alt. Und zwei Familien aus Rivne mit einem achtjährigen Kind. Sie wohnen in Rivne neben einem Kommissariat, diese Lage ist im Moment besonders gefährlich.“
Wie war die vergangene Nacht. Konnte er überhaupt schlafen? Oder passen Sie die ganze Zeit auf?
„Die Nacht war ruhig. Man sah die Lichter der Bomben in Zhytomyr. Bis dahin fahren wir etwa eineinhalb Stunden mit dem Auto. In den ersten Nächten haben wir nicht geschlafen. Wir saßen auf den Koffern und waren bereit, bis zur Grenze zu fahren, um die Frauen und Kinder dort zu lassen. Am ersten Tag wurde auch der Flughafen von Rivne bombardiert, etwa 25 Kilometer von uns entfernt. Wir dachten, die Fensterscheiben fallen raus.“
Wie kann er sich über die Lage informieren? Haben Sie Strom, Wasser, Internet, Lebensmittel?
„Die Lage um uns herum ist stabil. Wir haben Strom, Internet, Handynetz und einen eigenen Brunnen. Es gibt aber auch Ausfälle im Handynetz. Wir haben genug zu essen, da sind noch reichlich Vorräte aus dem Sommer. Man kann in der Stadt Lebensmittel kaufen, aber die Regale werden mit jedem Tag leerer.“
Was hat sich auf dem Betrieb geändert. Kann man noch normal arbeiten? Was ist mit der Frühjahrsbestellung, dem Pflanzenschutz, der Düngung?
„Wir düngen gerade Stickstoff. Den haben wir noch vor dem Krieg bekommen. Aber mit den Pflanzenschutzmitteln ist es schwierig. Noch brauchen wir sie nicht, erst in drei Wochen, vielleicht klappt es. Unsere Erträge sind gefährdet. Wir haben etwa 30 Prozent von dem, was wir normalerweise brauchen, um einen sicheren Ertrag zu ernten. Die Zentrallager unserer Lieferanten befinden sich in der Nähe von Kiew, da wird bombardiert. Ob etwas geliefert wird, kann niemand sagen. Aus der EU kommt momentan nichts in die Ukraine rein. Mit dem Diesel ist es auch schwierig, wir haben einige Tonnen, aber kaufen kann man nichts, vielleicht später.“
Kommen die Arbeitskräfte noch zur Arbeit?
„Unsere Mitarbeiter kommen zur Arbeit, wenn sie gebraucht werden. Ich rufe sie dann einfach an, abgesagt hat bisher niemand.“
Wie ist die Stimmung im Dorf ? Sind schon viele geflohen? Und wo sind die Männer?
„Aus unserem Dorf Ukrainka ist bis jetzt noch niemand geflohen, soweit ich weiß. Aber sehr sehr viele Familien erwarten eine Eskalation und halten sich bereit, in Richtung polnischer Grenze zu fahren. Die Männer dürfen nicht ausreisen. In den ersten Tagen hatten alle sehr viel Angst. Eines der stärksten Länder hat einen Krieg gegen uns angefangen. Außerdem haben sie Atomwaffen, mit denen immer wieder gedroht wurde. Aber jetzt verstehen wir, dass wir mit der Unterstützung von vielen Ländern sehr gute Chancen haben, zu gewinnen. Es geht um Freiheit und Frieden, nicht nur bei uns, in der ganzen Welt!“
Worauf hofft Vitaly Poliukhovych, was befürchtet er, was kann ihm und seiner Gruppe im Moment helfen?
„Im Namen der Ukraine möchte ich sagen, dass wir allen, die uns helfen, sehr dankbar sind. Ohne Euch wäre alles unmöglich. Danke für das Essen, die Klamotten, für das Beten, die Unterkünfte für unsere Frauen und Kinder und die guten Worte. Wir werden es nie im Leben vergessen!“
Interview: Astrid Thomsen
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