Wann treiben wir das Vieh auf? Welche Zäune müssen noch ausgebessert werden? Sind alle Hütten in Schuss?“ All diese Fragen und noch viele weitere beantwortet in Gößl der Dorfrichter. Ein Amt, das so in Österreich wohl einzigartig ist. Neun Bauern, die im etwa 100 Einwohner fassenden Gößl ansässig sind, wechseln sich jährlich in dieser Pflicht ab. Im abgelaufenen Bauernjahr übernahm zum ersten Mal eine Frau das Amt des Dorfrichters: Heidi Rastl vlg. Kößler.
Heidi bewirtschaftet einen Mutterkuhbetrieb mit durchschnittlich sechs Pinzgauer-Kühen und zwölf Hektar Grünland. Zusätzlich sind sie und die anderen Bauern der Dorfgemeinschaft dazu berechtigt, ihre Tiere auf die 70 Hektar große Gemeinschaftsalm aufzutreiben. Die Dorfgemeinschaft besteht aus neun Bauern, mit den Vulgonamen: Annerl, Butterer, Kanzler, Kößler, Oda, Ötzer, Rotbart, Veit und Syen. Die akribischen Schriften über die Tätigkeiten der Dorfrichter gehen vereinzelt bis ins 15. Jahrhundert zurück und werden Dorfchronik genannt. Sie werden in geschnitzten Holzkassetten aufbewahrt und bei der Dorfrichterübergabe an den Nachfolger weitergegeben.
Auch der Kößler-Hof wurde Mitte 1400 erbaut, ebenso wie die anderen Gößler Höfe. Seither schafften es alle Betriebe zu bestehen. Das steht ein wenig im Widerspruch zum viel zitierten Strukturwandel, der solch kleinen Betrieben oftmals kaum Überlebenschancen ausrechnet. Die Gößler Dorfgemeinschaft beweist hier das Gegenteil. Zwar werden alle Betriebe im Nebenerwerb geführt. Die Beständigkeit beeindruckt dennoch. Woran das liegt? „Wir haben hier im Dorf eine enge Verbundenheit und eine große Liebe zur Tradition“, erklärt Heidi. Die lange Abgeschiedenheit prägte die Gößler. Erst um 1900 wurde ein Weg nach Gößl angelegt. Das Dorf ist östlich von steil abfallenden Wänden des Toten Gebirges begrenzt und nach Westen hin vom Grundlsee. Heidi: „Wir müssen gut miteinander auskommen. Ob wir wollen oder nicht. Wenn ich meine Rinder vom Stall auf die Weide lassen will, muss ich vorher meinen Nachbarn fragen, weil rund um meinen Stall kein Platz ist.“ Tatsächlich stehen Stallgebäude, Wohnhäuser und Ferienhäuser dicht beieinander, oft nur wenige Meter voneinander entfernt. Diese enge Zusammenarbeit und der große Zusammenhalt zeichnen die Dorfgemeinschaft aus, so Heidi. Ihren Hof zu verkaufen oder zu verpachten? „Das kam für mich nie in Frage“, betont die resolute Betriebsführerin.
Auf der Alm, da gibt‘s viel zu tun
Heidi investiert auf ihrem Betrieb derzeit in eine neue Ferienwohnung für Urlaubsgäste. Die alte Sommerküche neben dem Haupthaus wird abgerissen und neu aufgebaut. Die Sommerküche, „außerne Kuchl“ genannt, diente früher als Auszugshaus für die Bauernfamilie, während das Haupthaus an Sommergäste vermietet wurde. Die Gästebeherbergung hat im steirischen Salzkammergut lange Tradition, und auch heute noch ist der Tourismus ein besonders wichtiger Wirtschaftszweig. Heidi wünscht sich deshalb mehr Wertschätzung und auch finanzielle Abgeltung im Rahmen der GAP für die Arbeit, die die Bauern leisten. Schließlich ginge ohne die Landschaftspflege der Bauern die Kulturlandschaft, wofür die Region bekannt ist, samt ihren Almen und Wiesen verloren.
Doch das Interesse für die Landwirtschaft erwachte in Heidi erst relativ spät. „Als Jugendliche gingen wir nur auf die Alm, um Feste zu feiern. Heute zählt der Almauftrieb, die Viehgänge und das Zäune- und Wegerichten zu meinem Beruf“, erzählt Heidi.
Dazu zählte bis vor Kurzem auch die Dorfrichter-Tätigkeit. „Gott sei Dank gab es in diesem Jahr keine Unglücksfälle oder Streitigkeiten. Kommt es doch einmal zu Unstimmigkeiten, setzen wir uns beim Veit, unserem Dorfwirtshaus, zusammen und diskutieren so lange, bis wir zu einer Lösung kommen“, so Heidi. „Streitschlichten“ musste sie in ihrer Amtszeit zwar nicht, dennoch waren einige Entscheidungen zu treffen.
Es galt, die vielen gemeinsamen Gebäude in Schuss zu halten. Dazu zählen vier Almhütten, eine Schiffshütte und sogar eine eigene Dorfkirche. Heidi musste den Tag des Viehauftriebs auf die Gemeinschaftsalm festlegen, vorher mussten die Zäune in den Schongebieten der Bundesforste aufgestellt werden. Dann besserten die Bauern gemeinsam die Zäune und Wege auf dem weitverzweigten Hochalmgebiet an jenen Stellen aus, wo Vieh abfallen könnte. Im Sommer musste zudem alle zwei bis drei Tage nach dem Vieh geschaut werden. Da das Hochalmgebiet der Gößler Bauern im Toten Gebirge ausschließlich zu Fuß erreichbar ist, nimmt ein Viehgang einen ganzen Tag in Anspruch. Sollte bei einem Viehgang ein Krankheits- oder Unglücksfall bei einem Vieh entdeckt werden, wendet man sich zuerst an den Dorfrichter, der dann die anderen zu Hilfe holt und entscheidet, was zu tun ist.
Als erste Frau in diesem Amt hatte Heidi aber keine Probleme, sich durchzusetzen. Die Gößlerin ist nämlich nicht auf den Mund gefallen: „Es ist immer schön, wenn man den Männern einmal etwas anschaffen kann – und sie tun es dann auch“, betont Heidi und lacht.
Dass Frauen ganz selbstverständlich im Dorf das Kommando angeben, war aber nicht immer so. Mit einem Augenzwinkern liest Heidi einen Eintrag ihres Urgroßvaters aus der Dorfchronik vor. Er berichtete 1946 wie folgt von seinen Tätigkeiten als Dorfrichter: „Hinaus gewegelt nach Grundlsee – mit Ochsen, Franzosen und Weiber.“ (Man beachte die Reihenfolge der Aufzählung.)
Heidis Jahr als Oberhaupt der Gößler Dorfgemeinschaft ging Ende März mit der Dorfrichterübergabe an Karl Bischof vlg. Oda erfolgreich zu Ende. Übrigens: Bereits in drei Jahren wird mit Elisabeth Klanner vlg. Butterer erneut eine Frau an der Spitze der Dorfgemeinschaft stehen.
Eva Zitz