Wenn eine Tür zufällt, geht ein Fenster auf – an wohl kaum einem Industriestandort in Österreich hat sich diese Stammbuchweisheit deutlicher bewahrheitet, als an der Agrana Kartoffelstärkefabrik in Gmünd im niederösterreichischen Waldviertel. Deutlich wurde dies im Rahmen eines Lokalaugenscheins, zu dem Agrana Generaldirektor Johann Marihart Ende Jänner eingeladen hatte.
Mehrfach in seiner 77-jährigen Geschichte stand das Werk vor der Herausforderung der Standortsicherung. Schon der Wegfall des südböhmischen Einzugsgebiets nach dem Zweiten Weltkrieg und die Konkurrenz zwischen Speise- und Industriekartoffeln in den Jahren des Wiederaufbaus waren Bedrohungsszenarien. Im Jahr 1988 folgte die Eingliederung in den Agrana-Konzern. Und in Vorbereitung auf den EU-Beitritt im Jahr 1995 ergaben sich wiederum neue Fragezeichen. Schon früh hatte man im Werk Gmünd neben der Herstellung von Kartoffelstärke auf weitere Produktionszweige gesetzt, um wirtschaftlich breiter aufgestellt zu sein. Beispielsweise war eine Ethanolanlage aufgebaut worden, und um die Auslastung der Trocknungstürme zu verbessern, wurde auch Kuhmilch zu Pulver verwertet. Genau diese beiden Sparten waren mit dem EU-Beitritt aber nicht mehr konkurrenzfähig und mussten geschlossen werden.
Gmünd würde auch TTIP meistern
Dem findigen Werksmanagement gelang es jedoch, die Sprühtrocknung durch die Umstellung auf Maltodextrin und durch den Neueinstieg in die Produktion von Säuglingsmilchprodukten zu “retten”, und, im Nachhinein gesehen, damit sogar den Grundstein für neue Erfolge zu legen. Denn mit dem Auslaufen der EU-Stärkemarktordnung im Jahr 2012 baute sich das nächste Bedrohungsszenario auf, und schließlich könnte auch das gegenwärtig in Verhandlung befindliche TTIP-Abkommen zu einem Prüfstein für die europäische Stärkeindustrie werden. Marihart: “Nordamerika erzeugt auf Basis von Mais jährlich rund 27 Mio. Tonnen Stärke, das ist etwa ein Drittel der weltweiten Produktion. Europas Stärkesektor ist nicht einmal halb so groß und kleiner strukturiert.” Der US-Vorteil bei den Fixkosten liege im Verhältnis von eins zu neun. Dazu kommen günstigere Energie- und Maispreise in den USA. Ohne die derzeit geltenden Zollsätze von 170 bis 220 Euro/t würde US-Stärke den europäischen Markt überschwemmen.
Dagegenhalten müsse Europa hier vor allem mit Zollkontingenten. Was Österreich betreffe, so Marihart, habe sich Agrana mit seiner Stärkeproduktion bereits aus dem margenschwachen Massensegment der nativen Stärke verabschiedet und setze auf Veredelung und Spezialitäten. Marihart, der selbst seine berufliche Laufbahn im Jahr 1976 als Laborleiter im Werk Gmünd begonnen hat: “Agrana setzt auf eine Spezialitätenstrategie und sucht seine Chancen in Nischenmärkten.” Dazu gehören Positionierungen wie
• frei von Gentechnik,
• Spezialprodukte und auch
• Bioprodukte.
Damit sei es beispielsweise möglich geworden, gentechnikfreie Wachsmaisstärke, die keine Amylose enthält, sogar in die USA zu exportieren. Auch für die Kartoffelstärke gibt es spezielle Anwendungen, in denen sie nicht austauschbar ist. Das sind beispielsweise Nahrungsmittel wie Gummibärli oder kunststofffreie Klebestifte. Schwerpunkt in Gmünd bleibe selbstverständlich weiterhin der Nahrungsmittelbereich mit der Herstellung von Kartoffeldauerprodukten, wie Püree und Kartoffelteigmischungen.
Marihart: “Gmünd ist unter den fünf Agrana-Stärkefabriken jene mit der größten Veredelungstiefe. In Summe werden hier mehr als 300 verschiedene Stärkeprodukte hergestellt.”
Größere Sorgen im Werk Gmünd bereitet nach der extremen Trockenheit des Vorjahres wieder einmal die Rohstoffaufbringung. Anstelle der erwarteten 245.000 Tonnen Stärkekartoffeln konnten nur etwa 165.000 Tonnen angeliefert werden. Mit einer gesonderten Trockenheitsprämie und mit neuen Kontraktbedingungen für das laufende Jahr 2016 will Agrana die Aussaat von Stärkeindustriekartoffeln attraktiv für die Landwirte halten. Auch nach Südböhmen werden seit etwa fünf Jahren wieder Anbauverträge vergeben, um “das, was in Österreich fehlt” zu ergänzen. Etwa ein Viertel der Gmünder Verarbeitungsmenge wird derzeit aus dem Nachbarland zugeliefert.
Vom Gesamtausstoß des Werks entfällt jedoch nur etwa die Hälfte auf Kartoffelprodukte. Wie groß die Bedeutung von Spezialprodukten für Gmünd ist, zeigt etwa das Segment Säuglingsmilch. Seit etwa 20 Jahren ist man im Werk Gmünd in Partnerschaft mit namhaften Marken auf diesem Feld tätig und hat sich mit “learning by doing” das erforderliche Spezialwissen und eine Jahresproduktion von etwa 4000 Tonnen aufgebaut. Werksleiter Norbert Harringer: “Das oberste Gebot lautet: Hygiene, Hygiene, Hygiene.”
Mit dem Kindermilchskandal des Jahres 2008 in China und der seither explodierenden Nachfrage aus dem asiatischen Raum – in Deutschland wurden zeitweise von organisierten Trupps die Supermärkte leergekauft – schlug im Werk Gmünd die Stunde für Erweiterungsinvestitionen. Es wurde eine Anlage mit zwei Trockenmischlinien installiert, die erst jüngst in Betrieb genommen wurde.
Säuglingsmilch von der Ziege
Dies ermöglicht eine Verdoppelung des Jahresausstoßes. Bemerkenswert ist, dass man in Gmünd auch hier auf besondere Qualität setzt. Harringer: “Wir bieten Säuglingsmilchprodukte auch in Bio- und sogar Demeterqualität an. In Zukunft wird es auch Produkte auf Basis von Ziegenmilch geben.”
Für den Standort Gmünd und für Agranachef Marihart sind das gute Nachrichten. Denn im Konzern ist das Segment Stärke mit seiner “erfreulichen Geschäftsentwicklung” zum “Ergebnisbringer” geworden, der den anhaltend starken Preisdruck im Segment Zucker abzufedern vermag.
Stärkefabrik Gmünd: 110.000 Tonnen Jahresausstoß
In der Agrana Stärkefabrik Gmünd sind 350 Mitarbeiter beschäftigt. Jährlich werden rund 250.000 t Kartoffeln verarbeitet, die rund 1300 Vertragslandwirte produzieren. Der Jahresausstoß an Fertigprodukten beträgt etwa 110.000 t. Die zwei Hauptproduktionslinien sind die Stärkefabrik und die Erzeugung von Kartoffeldauerprodukten (Pürees, Teige). Weitere Produktionslinien bestehen mit der Verzuckerung, der Sprühtrocknung sowie für Säuglings- und Kindermilchprodukte. Auch Walzentrocknungs- und Extrusionsprodukte werden in Gmünd gefertigt.
Hans Maad