Bauernzeitung: In den Jahren von 2019 bis 2021 sind Nutztierrisse in Tirol durch große Beutegreifer, insbesondere dem Wolf, stark angestiegen. Wie ist die Situation 2022 bis jetzt im Bezug auf Rissgeschehen, Wolfsvorkommen und Rudelbildung?
Längauer: Die Wolfsvorkommen steigen in Österreich stetig an und lagen im Jahr 2021 bei über 50 verschiedenen Individuen, die mittels DNA nachgewiesen werden konnten. Außerhalb der zwei Gebiete in NÖ, wo bereits eine Rudelbildung erfolgt ist, konnten in Österreich 35 verschiedene Wölfe festgestellt werden. Die Dunkelziffer könnte jedenfalls darüber liegen. Auch die Nutztierrisse nehmen von Jahr zu Jahr zu, waren es 2019 noch rund 200 Nutztiere, vorwiegend Schafe, die von Großraubtieren getötet wurden, lag die Zahl im Jahr 2021 schon bei 500, davon alleine in Tirol 323. Die Anzahl der Nutztierrisse seit Beginn des Jahres bis Juni 2022 belaufen sich auf über 150, in Tirol waren es heuer bereits ca. 40 Tiere.
Die Situation des starken Anstiegs von Wolfsindividuen ist in allen Ländern des Alpenraums gleich, sodass die alpine Wolfspopulation bereits eine Zahl von mehr als 550 Individuen überschritten hat. Gleichzeitig ist festzustellen, dass im gesamten Alpenraum die Zahl der aufgetriebenen Schafe und Ziegen sinkt. Dieser Umstand hat auch dazu geführt, dass die Schweiz als Mitglied der Berner Konvention, mit vergleichbaren Regelungen wie die Naturschutzgesetze der EU, im Jahr 2016 beim Ständigen Sekretariat der Berner Konvention des Europarates einen Antrag auf Herabsetzung des strengen Schutzstatus des Wolfes gestellt hat. Die Absicht dahinter war, einen größeren Handlungsspielraum beim Wolfsmanagement zu erreichen und vereinfachte Entnahmen einzelner Wölfe aufgrund der hohen Risszahlen, die 2020 deutlich über 800 lagen, zu ermöglichen. Die EU, die ebenfalls Mitglied der Berner Konvention ist, hat diesen Antrag bislang nicht unterstützt.
Wie sieht die derzeitige Kommunikationsstrategie zum Wolf aus?
Längauer: Bislang kommen zur Frage des Managements von Großraubtieren primär jene Vertreter der Wissenschaft zu Wort, die sich für eine Beibehaltung des strengen Schutzstatus aussprechen. Daher erscheint es aus meiner Sicht wichtig, Wissenschaftler mit landwirtschaftlichem Fachwissen zu Wort kommen zu lassen, die die Auswirkungen für die Alm- und Weidewirtschaft fundiert einschätzen können.
Da die Probleme, denen betroffene Landwirte ausgesetzt sind, einer breiten Öffentlichkeit nur untergeordnet bewusst sind, gilt es, auf die unmittelbare und persönliche Betroffenheit der Menschen in unserem Land aufmerksam zu machen. So werden Ausflüge von Kindergärten in den Wald nicht mehr wie bisher stattfinden können, Warntafeln und Schutzmaßnahmen für Familien mit Kindern werden den Alltag prägen. Elektrozäune und Herdenschutzhunde werden den Bewegungsradius von Bergwanderern und Erholungssuchenden erheblich einschränken und zum Teil unmöglich machen. Werden Almbauern gezwungen, ihre Herden künftig nur noch im hofnahen Bereich zu halten und gibt es keine Tiere mehr auf Almen und Weiden, dann fällt eine wesentliche Voraussetzung für das Tierwohl und den Tierauslauf weg. Die nicht gewünschte Massentierhaltung und steigende Importe aus Drittstaaten werden zunehmen, die Vorteile der Berglandwirtschaft mit ihren qualitativ hochwertigen und regionalen Produkten wegfallen.
Welche Lösungsansätze gibt es, beziehungsweise welche Strategie verfolgt man zurzeit im Großraubtiermanagement?
Längauer: Zur Aufrechterhaltung der Alm- und Weidewirtschaft ist es notwendig, einen pragmatischen Ansatz zu ermöglichen, der die Interessen des Artenschutzes gleichwertig mit jenen der Landwirtschaft zur Aufrechterhaltung der flächendeckenden Bewirtschaftung berücksichtigt, so wie dies die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU auch vorsieht. Dazu zählt ganz entscheidend die Möglichkeit der Einrichtung von Weideschutzgebieten, so wie dies das Europäische Parlament in seinem Bericht zur Lage der Schaf- und Ziegenhaltung im Jahr 2018 bereits ausgesprochen hat und deren Rechtmäßigkeit von hochrangigen Vertretern der Rechtswissenschaft bereits bestätigt wurde. In diesen Gebieten ist der Erhaltung der Alm- und Weidewirtschaft der Vorrang gegenüber dem strengen Artenschutz einzuräumen, so wie dies bereits in anderen Mitgliedstaaten der EU praktiziert wird und nunmehr auch in einzelnen Bundesländern in Österreich versucht wird, rechtlich zu verankern.
Eine Bundesländer-Arbeitsgruppe, eingerichtet durch einen Agrarreferentenbeschluss im Jahr 2021, hat einen Kriterienkatalog zur Einrichtung von Weideschutzgebieten erstellt, nach dem die Behörden vorgehen sollten. Die Ergebnisse der Arbeiten zeigen, dass auf weiten Teilen der Alm- und Weideflächen Herdenschutzmaßnahmen undurchführbar, unverhältnismäßig und unzumutbar sind.
Wie sieht der „schwedische Weg“ aus und hat die Anwendung schwedischer Maßnahmen Aussicht auf Erfolg in Österreich?
Längauer: In Schweden leben derzeit rund 460 Wölfe, 2800 Braunbären und 1200 Luchse. Nord- und Südschweden sind wolfsfrei (240.000 km²), eine Rudelbildung wird hier nicht zugelassen, da der Erhalt der Rentierhaltung höherrangig als der strenge Artenschutz angesehen wird. Drei Arten der Wolfsentnahme sind möglich, die Schutzjagd, die Lizenzjagd und die Notfallentnahme. Bei Gefahr in Verzug hat der Bewirtschafter die Möglichkeit der sofortigen Entnahme, muss jedoch zuvor einen Vergrämungsversuch unternehmen.
Folgende Ansätze können vom schwedischen Weg auf Österreich übertragen werden:
- Österreich definiert ein politisches Ziel des Günstigen Erhaltungszustandes (GEZ) unter Betrachtung der Akzeptanz in der Bevölkerung, der Wissenschaft, der Aufrechterhaltung der Nutztierhaltung sowie sonstigen ökonomischen Gesichtspunkten. Wenn in Schweden der GEZ mit 300 als erreicht gilt, muss dieser in Österreich deutlich niedriger sein, weil die Nutzung des Kulturraums deutlich intensiver erfolgt und Österreichs Fläche um ein Vielfaches kleiner ist als jene in Schweden.
- Da die Populationsgröße der alpinen Population bereits über 250 Individuen liegt und ein genetischer Austausch mit anderen Populationen möglich ist, kann der GEZ als erreicht angesehen werden. Damit ist die Anpassung der Anhänge der FFH-Richtlinie betreffend Wolf gerechtfertigt und eine Herabstufung des strengen Schutzstatus erforderlich.
- Notfallentnahmen bei Gefahr in Verzug sind im österreichischen Rechtssystem vorzusehen bzw. der bereits vorhandene Rechtsrahmen zu nutzen, unabhängig von Bewilligungen, Verordnungen etc.
- Aufgrund des Gleichheitsgrundsatzes sind alle Mitgliedstaaten gleich zu behandeln. Daher sollte der schwedische Weg von wolfsfreien Zonen auch in Österreich möglich sein. Die gleiche Argumentation wie in Schweden mit der Höherrangigkeit des Erhalts der Rentierhaltung gegenüber dem Artenschutz gilt in Österreich für die Erhaltung der Alm- und Weidewirtschaft.
Mag. Martin Längauer ist Referent der Landwirtschaftskammer Österreich (LKÖ), zuständig für Umweltpolitik und Umweltrecht. Der Schwerpunkt der Tätigkeit liegt im Bereich der Interessenvertretung auf nationaler und europäischer Ebene zu Themen wie Klimaschutz, Biodiversität und Naturschutz, Luftreinhaltung, Bodenschutz und Wasser etc. Zudem ist er Mitglied in zahlreichen nationalen Kommissionen im Umweltbereich sowie Geschäftsführer der Österreichischen Gesellschaft für Agrar- und Umweltrecht (ÖGAUR).
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- Längauer Martin DSCF4106: Martin Längauer
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