Die Landwirtschaft Afrikas werde „von den eigenen Regierungen, von kooperierenden Staaten, auch von der internationalen Hilfsindustrie sträflich vernachlässigt“ und nehme selbst in der Agenda 2063, einer Art „Marshall-Plan“ für diesen Erdteil, nur eine nachgeordnete Rolle ein. Dabei sei die Agrarfrage „eine Schicksalsfrage für den Erdteil“, so Grill: „Die meisten Bauern und Bäuerinnen erzeugen gerade genug, um ihre Familien zu ernähren, aber viel zu wenig, um die schnell wachsende Bevölkerung zu versorgen.“
Grill, selbst Sohn von Bergbauern in Bayern, berichtete fast vier Jahrzehnte lang als Korrespondent für „Die Zeit“ und den „Spiegel“ aus Afrika. Schon 2002 erschien sein Buch „Ach, Afrika“, laut Süddeutscher Zeitung „das fairste und gescheiteste Buch, das von einem deutschen Autor über den Kontinent vorgelegt wurde“. Nun geht Grill in Pension und hat in Kapstadt in „Afrika! Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents“ Erlebtes und seine Gedanken über Länder, Systeme und Menschen oder die strukturellen Nahrungsmitteldefizite zusammengefasst. „In klugen Reportagen hinterfragt er viele Stereotype über den Kontinent“, so die SZ.
„Nicht genug für alle da“
Grills Conclusio: „Es ist einfach nicht genug für alle da. Das gilt für viele Länder Afrikas.“ Die Landwirtschaft sei rückständig, Millionen von Subsistenzbauern seien nicht in der Lage, höhere Erträge zu erzielen. Es fehle überall an Investitionskapital und Know-how, an modernen Anbau-und Zuchtmethoden, Maschinen, Düngemitteln, hochwertigem Saatgut, sparsamen Bewässerungssystemen. Und am Zugang zu Märkten. Überdies gehöre ihr Land zumeist dem Staat oder werde wie von herrschsüchtigen traditionellen Führern kontrolliert. Der Journalist beschreibt etwa die Lage in Äthiopien. „Im Simien-Gebirge kam mir das vor wie ein Ausflug in biblische Zeiten. Da rackerte sich das Landvolk mit Feldhauen, Ochsengespannen und Holzpflügen auf staubtrockenen Böden ab. Die Politiker in der Hauptstadt Addis Abeba kommen nur in Wahlkampfzeiten in diese Gegend. So erkennen nur wenige die Notwendigkeit, dass man die Landwirtschaft mechanisieren und intensivieren muss.“ Andererseits verpachte die Regierung ganze Landstriche an ausländische Konzerne, die im großen Stil Agrarerzeugnisse exportieren – aus einem Land, das in Dürrezeiten zigtausende Tonnen Getreide zukaufen müsse.
Afrika importiere jedes Jahr Nahrungsmittel um rund 60 Mrd. Dollar. „Dabei könnte es eine Kornkammer der Welt sein, der Kontinent hat auch in Zeiten des Klimawandels noch genügend brachliegende Böden, um die eigene Bevölkerung zu versorgen und Exportüberschüsse zu erwirtschaften“, schreibt Grill. Die ungenutzte Ackerfläche wird auf 200 Millionen Hektar geschätzt, ein Areal, fünfeinhalbmal so groß wie Deutschland. Der Kontinent bräuchte eine „grüne Revolution“ wie Asien in den 1960er-Jahren, meint Grill. Sie würde Arbeit und Wohlstand schaffen, der jungen Generation Lebensperspektiven bieten, die Landflucht in die aus allen Nähten platzenden Millionenstädte mindern. Das setze allerdings eine durchdachte Agrarstrategie voraus. Und zuallererst die Schaffung einer funktionierenden Infrastruktur: Straßen, Transportmittel, Energieversorgung, Verteilungszentren für Saatgut, Dünger, Maschinen, Lager- und Kühlhäuser, Forschungs- und Ausbildungsstätten. So könnten lokale Märkte stimuliert und verarbeitende Nahrungsmittelindustrien aufgebaut werden. Um die Wertschöpfung in den Erzeugerländern zu verankern und Fertigprodukte über neue regionale wie globale Lieferketten zu vermarkten.
Entwicklungssprünge mit iCow-App und AfriScour
„Leapfrogging“ hieße auch hier die Lösung, also das Auslassen einzelner Stufen im Laufe eines Entwicklungsprozesses. Es gebe dafür eine Fülle von digitalen Instrumenten auch für die Landwirtschaft. „Die App ‚iCow’ ermöglicht Kleinbauern, sich über den Brunftzyklus ihrer Kühe oder Tierkrankheiten zu informieren.“ Twiga Foods und Ninayo fördern die Direktvermarktung, informieren die Produzenten über die aktuellen Preise auf den städtischen Großmärkten, damit diese nicht mehr von Zwischenhändlern übervorteilt werden; DigiFarm vermittelt Mikrokredite; ACRE Africa bietet Versicherungen gegen Ernteausfälle an; AfriScour hilft Hirten, Wasser und Weideland für ihre Herden zu finden. „Und ‚Hello Tractor’ ist ein Verleihsystem für schweres Gerät, das den Maschinenringen in Deutschland und Österreich ähnelt.“
Kritisch dagegen sieht der Afrika-Korrespondent kapitalkräftige Initiativen wie die „Alliance for a Green Revolution in Africa (Agra). Diese unterstützt laut eigenen Angaben seit 2006 in mehreren Ländern rund 30 Millionen Kleinbauern und versprach, deren Ernteerträge bis 2020 zu verdoppeln. Einer der wichtigsten Geldgeber: Bill Gates. Recht schnell stellte sich laut Grill heraus, dass von diesem Großprojekt das Agrobusiness profitiert. Es ist kein Geheimnis, dass der Multimilliardär Gates beträchtliche Aktienanteile an Saatgut- und Chemiekonzernen hält, auch an Landtechnikmultis, welche die Inputs für Agra liefern. Genmanipuliertes Material inklusive.“ Die Empfänger würden dazu verpflichtet, lizenzierte Hybridsorten, synthetischen Dünger und Pestizide abzunehmen. Das trieb viele in die Schuldenfalle. Und verdrängte auch in Afrika typische Kulturpflanzen wie Süßkartoffeln, Maniok, Fingerhirse oder Sorghum. Denn Agra propagiere die „Vorzugskulturen“ Mais, Reis und Soja in seinen Projektgebieten. „Dann kam 2020, und das vollmundig angekündigte Ziel, die Erträge zu verdoppeln, verschwand still und leise von der Agra-Webseite. Es wurde nämlich weit verfehlt.“
Steiniger Weg zu einer agrarökologischen Wende
Der Weg in Richtung agrarökologische Wende in Afrika sei noch weit und steinig. Auch wegen der ungleichen Tauschverhältnisse am Weltmarkt. Grill: „Man kann das am Handel mit allen Rohprodukten durchexerzieren, an Baumwolle, Palmöl, Erdnüssen, Kaffee, Tee.“ Oder Kakao. Ein Bauer in der Elfenbeinküste
verdiene an einer in Deutschland verkauften Tafel Schokolade nur drei bis vier Prozent. Für eine Jahresernte von 300 Kilogramm selbst gerösteter Kakaobohnen erhält er umgerechnet rund 450 Euro. „Er verdient also 1,23 Euro am Tag, während Nestlé, Mars oder Ferrero Milliardengewinne mit den veredelten Produkten machen.“ Die kleinen Fortschritte könnten nicht darüber hinwegtäuschen, „dass die große Mehrheit der afrikanischen Bauern kaum vorankommt. Ihre Einkünfte sind gemessen an den Endverbraucherpreisen mickrig“, kritisiert Grill.
EU ist nach wie vor Afrikas wichtigster Wirtschaftspartner
Vor allem die EU müsste „im eigenen Interesse ihre Beziehungen zum Nachbarkontinent grundsätzlich ändern“, diesen „nicht mehr wie einen lästigen Weltsozialfall behandeln, von dem nur Bedrohungen ausgehen. Derweil verstärkt man die Festung Europa, um sich Migranten und Flüchtlinge vom Leibe zu halten“. Zaghaft angekündigte Reformschritte würden regelmäßig im Sande verlaufen. Dabei sei die EU nach wie vor Afrikas wichtigster Wirtschaftspartner, weit vor den USA und immer noch vor China. Aber Europa habe die großen Transformationen, die derzeit auf dem Nachbarkontinent ablaufen, nicht verstanden, zitiert der Autor den Ökonomen und Afrika-Experten Robert Kappel.
Zwar locke Brüssel seit der Jahrtausendwende mit Economic Partnership Agreements (EPA), also Freihandelsabkommen, die auf der gegenseitigen Öffnung der Märkte basieren. „Aber da stehen sich zwei ungleiche Akteure gegenüber, die nach dem Reglement der EU handeln sollen.“ Die meisten afrikanischen Regierungen hätten das durchschaut. „Die Afrikaner bleiben die ewigen Verlierer in diesem Poker: Sie haben außer Rohstoffen und unverarbeiteten Agrargütern wenig anzubieten. Ihre Exporte werden durch Handelshemmnisse eingeschränkt, während die Europäer Afrika mit hoch subventioniertem Tomatenmark, Milchpulver, Hühnerfleisch und anderen Billigwaren überschwemmen.“
Kritik an EU: „Doppelmoral“
Grill ortet eine Doppelmoral der EU: Sie zerstöre durch ihre Handelspolitik, was sie entwicklungspolitisch mühsam aufbaut – und erhöhe mithin den Migrationsdruck, den sie eigentlich verringern will. Wie würde der langjährige Beobachter das Problem lösen? Vor allem müsste man die Subventionen abschaffen, die milliardenschweren Finanzspritzen für eine Agrarindustrie, die unermesslichen Schaden anrichtet – ökonomisch, ökologisch und sozial. Doch die Eurokraten, getrieben von einer mächtigen Agrarlobby, machen genau das Gegenteil. Dagegen bringe die EU-Entwicklungshilfe seit über einem halben Jahrhundert nur dürftige Ergebnisse hervor und sei auch kontraproduktiv. „Die Almosen beglücken oft nur korrupte Machtcliquen und lähmen, so sie überhaupt ankommen, die Eigeninitiative der Empfänger“, so Grills pessimistisches Resümee.
Bernhard Weber
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- Local Farmer Dressed In Colorful African Cloths, Angola 2019.: Foto: Mauro - stock.adobe.com