Die Bewältigung der Folgen des Krieges in der Ukraine auf die weltweite Ernährungssicherheit hat für Janusz Wojciechowski „höchste politische Priorität“. Gleichzeitig tritt er für die Verringerung der Abhängigkeit von chemischen Pflanzenschutzmitteln ein. Im Gespräch mit Agra-Europe verweist der EU-Agrarkommissar und gebürtige Pole auf die besondere Rolle der EU bei der Sicherung der weltweiten Ernährungsversorgung. So müssen seit Juli alle EU-27 verpflichtend ihre monatlichen Lagerbestände an Getreide, Ölsaaten und Saatgut an Brüssel melden.

Herr Kommissar, der russische Einmarsch in die Ukraine ist auch für den EU-Agrarsektor eine enorme Herausforderung. Wie ist Ihre Rolle?
WOJCIECHOWSKI:
Die Bewältigung der Auswirkungen der russischen Aggression in der Ukraine auf die Ernährungssicherheit haben für mich höchste politische Priorität. Wir haben dazu ein öffentliches Dashboard zur Überwachung der Produktion, der Preise und des Handels mit den wichtigsten Getreidearten und Ölsaaten in der EU eingeführt. Ich stehe auch regelmäßig mit dem ukrainischen Agrarminister Mykola Solskyi in Kontakt, um die Bedürfnisse der Ukraine zu erörtern. Und ich habe mich sehr für die Einrichtung der Solidaritätskorridore eingesetzt, insbesondere über Polen, um die Ukraine bei der Ausfuhr ihrer landwirt­schaftlichen Erzeugnisse zu unterstützen. Wladimir Putin setzt Lebensmittel als geopolitische Waffe ein. Die EU wird angesichts dieser Aggression nicht untätig bleiben.

Die Exporthindernisse für Getreide aus der Ukraine in bedürftigen Ländern verschärfen die Nahrungsmittelknappheit. Dazu kommen die teils enormen Preissteigerungen auf dem Weltmarkt. Was tut die EU zur Entschärfung der Situation?
Unsere Maßnahmen kombinieren verschiedene Aktionsbereiche: Handel, einschließlich der Vermeidung von Ausfuhrbeschränkungen, landwirtschaftliche Maßnahmen, Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe. Darüber hinaus ist die EU ein führender humanitärer und entwicklungspolitischer Geber im Bereich der Ernährungssicherheit und steht damit an der Spitze der internationalen Bemühungen, gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm der UNO. Außerdem erhöhen wir die Mittel für gefährdete Partnerländer, die in einem hohen Maß von Agrarimporten aus der Ukraine abhängig sind. Es ist jetzt für alle Länder wichtig ist, restriktive Handelsmaßnahmen zu vermeiden. Die globalen Handelswege sind der Schlüssel, um die Auswirkungen des Krieges abzufedern und die Grundnahrungsmittel dorthin zu bringen, wo sie am dringendsten benötigt werden.

Sie haben speziell auf Finanzhilfen und handelspolitische Instrumente verwiesen. Das Verteilungsproblem ließe sich teils auch über ein höheres Angebot abfedern. Sollte die EU ihre Produktion ausweiten, um bei der Sicherung der globalen Versorgungssicherheit mitzuhelfen?
Die EU trägt ihren Teil dazu bei, die Produktionslücke bei Weizen zu schließen. Wir sind nicht nur ein wichtiger Weizennettoexporteur, sondern erzeugen auch höchste Erträge. Seit Juli müssen die Mitgliedstaaten der Kommission ihre monatlichen Lagerbestände an Getreide, Ölsaaten und zertifiziertem Saatgut melden. Unsere Landwirte brauchen mehr denn je unsere Unterstützung, um angesichts schwankender Preise und steigender Energiekosten weiterhin auf hohem Niveau zu produzieren.

Was heißt das konkret?
Wir haben unsere Krisenreserve von knapp 500 Millionen Euro geöffnet. Diese Gelder können für besonders stark betroffene Landwirte verwendet werden. Außerdem können die Mitgliedstaaten ihre nicht genutzten Gelder für die Entwicklung des ländlichen Raums dazu verwenden, Landwirte sowie kleine und mittlere Unternehmen im Agrarsektor direkt zu unterstützen. Die Bauer können zudem ökologische Vorrangflächen im Jahr 2022 ohne Auswirkungen auf ihre Greening-Zahlungen für ihre Produktion nutzen Ob das auf einer potentiellen Gesamtfläche von fast 4 Millionen ausgeschöpft wird, ist allerdings von den einzelnen Mitgliedstaaten abhängig.

Sie waren auch sofort ein Befürworter der vorübergehenden Aussetzung der Regeln für die Fruchtfolge und Stilllegung.
In der Tat, die Kommission hat eine befristete, kurzfristige Ausnahmeregelung von den Vorschriften über die Fruchtfolge und die Erhaltung unproduktiver Flächen auf Ackerland vorgeschlagen (dieser haben kurz nach dem Interview die EU-Agrarministern zugestimmt, Anm. d. Red.). Dies wird die Getreideproduktion in der EU erhöhen. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass die EU jetzt dazu beiträgt, die Produktionslücke zu schließen, um so den weltweiten Mangel an Weizen zu beheben.

Was entgegnen Sie Kritikern, die daran erinnern, dass eine Verringerung der Umweltambitionen etwa die Klimakrise verschärfen werde?
Auch wenn kurzfristige Maßnahmen zur Bewältigung dieser Ausnahmesituation erforderlich sind, dürfen wir nicht vergessen, dass der Übergang zu einer nachhaltigen Landwirtschaft unser einziger Weg zu einer langfristigen Ernährungssicherheit ist. Die Kommission hat verschiedene Schritte in Richtung eines fairen, gesunden und umweltfreundlichen Lebensmittelsystems unternommen. Zur Umsetzung der Farm-to-Fork-Strategie sowie der EU-Biodiversi­tätsstrategie spielt die Landwirtschaft eine Schlüsselrolle. Farm-to-Fork bringt alle Akteure entlang der Lebensmittelwertschöpfungskette zusammen, um zu nachhaltigen Lebensmittelsystemen mit neutralen oder positiven Umwelt- und Klimaauswirkungen zu gelangen. Darüber hinaus sollen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass die EU-Bürger sich stärker für eine gesunde Ernährung entscheiden können. Konkret wollen wir den Einsatz und die Risiken von chemischen Pflanzenschutzmitteln sowie den Einsatz von Antibiotika und den Verlust von Nährstoffen deutlich reduzieren.

Federführend zuständig für diese Strategie und den daraus resultierenden Verordnungsvorschlag zur Pflanzenschutzmittelreduktion ist aber Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides. Wie groß ist überhaupt Ihr Einfluss als Agrarkommissar auf die Pflanzenschutz-Gesetzgebung?
Wir müssen den Aufbau einer nachhaltigen, produktiven und widerstandsfähigen Landwirtschaft zusammen fortsetzen. Die Verringerung unserer Abhängigkeit von chemischen Pflanzen­schutzmitteln ist dabei ein wichtiger Bestandteil. Wir sehen, wie sich der Klimawandel bereits auf die Produktion auswirkt, mit wiederkehrenden Dürren und Überschwemmungen oder starken Regenfällen.

Wie bewerten Sie das Instrument der nationalen GAP-Strategieplänen, um den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zu begrenzen?
Wir fordern die Mitgliedstaaten eindringlich auf, ihre strategischen GAP-Pläne zu nutzen, um die Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Praktiken zu unterstützen, etwa durch die Ausweitung agrarökologischer Praktiken oder die Präzisionslandwirtschaft. Ferner können wir über diese Strategiepläne die Abhängigkeit von Betriebsmittel­ und Futtermittelimporten durch nachhaltige Tierhaltung und die Förderung von Eiweißpflanzen reduzieren.

Rechnen Sie damit, dass die GAP-Reform rechtzeitig am 1. Jänner 2023 beginnen kann?
Ja, davon können Sie ausgehen.

Zu Beginn Ihrer Amtszeit haben Sie erklärt, dass eines Ihrer wichtigsten Ziele darin bestehe, die Unterstützung für kleine und mittlere landwirtschaftliche Betriebe zu verbessern.
Die neue GAP wird eine gerechtere Verteilung der Einkommensbeihilfen und eine stärkere Ausrichtung auf die kleinen und mittleren Betriebe bringen. Ein Schlüsselelement dabei ist, wie die Umverteilung im Hinblick auf gerechtere, effizientere Direktzahlungen erfolgen wird. Je nach Mitgliedstaat können verschiedene Interventionen oder Instrumente eingesetzt werden. Die Mitgliedstaaten sollten mindestens 10 Prozent ihrer Direktzahlungen dafür verwenden, um die Zahlungen für kleinere und mittlere Betriebe zu erhöhen.

EU- Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans hat allerdings selbst erklärt, dass 10 Prozent nicht ausreichen werden, um an den Strukturen wirksam etwas zu ändern.
Die Mitgliedstaaten können zusätzlich auch andere Direktzahlungsinterventionen und -instrumente einsetzen, wie Zahlung für Kleinlandwirte, die Territorialisierung der Grundeinkommensstützung oder die Kappung oder Degression der Beihilfen. All diese Maßnahmen und Instrumente ergänzen die Grundeinkommensstützung, um eine Einkommensebene zu schaffen, die zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit der Betriebe insgesamt beiträgt. Außerdem leisten diese Umverteilungsmechanismen einen Beitrag dazu, die Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Betriebsgrößen zu verringern. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten im Rahmen der Direktzahlungen eine gekoppelte Einkommensstützung gewähren, um die Wettbewerbsfähigkeit, die Nachhaltigkeit oder die Qualität in bestimmten Sektoren und Produktionen zu verbessern oder die aus sozialen, wirt­schaftlichen oder ökologischen Gründen besonders wichtig sind und auf bestimmte Schwierigkeiten stoßen. Neu ist, dass die Unterstützung künftig auf der Grundlage des ermittelten und nach Prioritäten geordneten Bedarfs erstellt werden muss. Dies kommt eindeutig den kleineren Betrieben zugute.

- Bildquellen -

  • Janusz Wojciechowski: Christophe Licoppe
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AUTORRed. B.W.
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