Heimkommen – aus aller Verlorenheit

Der Stall von Bethlehem war der erste Treffpunkt. Dorthin konnten alle kommen.

Die Botschaft der Weihnacht fasziniert – immer noch. Ein Mix von kindlicher Erinnerung, schönem Brauchtum und Sehnsucht nach einem halbwegs harmonischen Zusammensein. Dass dies oft ein Wunschkonzert bleibt, ist auch klar. Defacto verläuft der Weihnachtsabend etwas anders als erträumt. Die zu hohen Erwartungen rächen sich. Störungen lassen nicht auf sich warten. Ebenso sind Auseinandersetzungen, Streit und Enttäuschungen recht verlässliche Gäste. Sie verstärken die allgemeine Gereiztheit, die ohnehin in der Luft liegt. Mit Sicherheit steht zu Weihnachten viel auf dem Prüfstand – nicht nur unsere emotionale Belastbarkeit. Geduld und Herzensweite sind gefragt. Ebenso unser Glaube: Was feiern wir denn eigentlich?

Offensichtlich verloren

Als ich bei meinem ersten Weihnachten in Tirol am Heiligen Abend von einem Termin zurück ins Bischofshaus kam, sah ich einen älteren Herrn am Domplatz he-rumirren. Er läutete an mehreren Türen, ganz offensichtlich verloren. Ich konnte herausfinden, dass er aus Südafrika stammt und mit einer Agentur unterwegs war – mit dem Motto „Vier Tage Europa im Winter“. Ein Tag davon in Innsbruck. Er hat sich verlaufen und fand sein Hotel nicht mehr. „I don’t know“ hat er immer geantwortet, wenn ich nach dem Namen des Hotels, seiner Reisegesellschaft oder anderen Anhaltspunkten gefragt habe. Schließlich konnten wir mit großer Mühe seine Herberge ausfindig machen. Glückliches Ende einer eigenartigen Geschichte.

Auf der Suche nach
einem echten Zuhause

Das Bild des verlorenen Mannes mitten in der weihnachtlich ruhigen Altstadt vergesse ich nicht. Es zeigt, dass wir letztlich alle irgendwie Herumirrende sind – auf der Suche nach einem echten Zuhause. Nach einer Geborgenheit, die sich nicht so einfach herstellen lässt. Und natürlich ist die reale Geschichte auch ein Hinweis darauf, dass wir viel zu viel in unser Leben hineinstopfen möchten. „Four Days white Europe!“ Ja, geht´s noch? Alles schnell und sofort konsumieren, Gier und Maßlosigkeit geben das Tempo vor. Zurück bleiben einsame Menschen, die das Leben nicht mehr wahrnehmen können – sich selbst, den Mitmenschen, der Schöpfung und Gott entfremdet. Aber es bleibt die Sehnsucht, snach einer verlässlichen Adresse. Eine Spur zum Sinn des kommenden Festes.

Weihnachten vermittelt uns die Gewissheit, dass wir immer zu Gott heimkommen dürfen. Gerade dann, wenn in den eigenen vier Wänden nichts von heiler Welt zu spüren ist. Wie damals in Bethlehem. Das Menschwerden Gottes fand in ärmlichen, ungeordneten Verhältnissen statt – die Geburt Jesu notdürftig in einer Unterstelle für Tiere. In den besseren Unterkünften war für den Sohn Gottes kein Platz. Dieser historische Background des Festes bleibt aufregend: Der Allmächtige hat sich selbst ausgesetzt, um uns entgegen zu kommen, uns zu suchen. Kein Ort ist ihm fremd, keine Verlorenheit. Der Stall von Bethlehem war der erste Treffpunkt. Dorthin konnten alle kommen – die Leute vom Rand der Gesellschaft und ebenso die wohlhabenden Gelehrten aus dem Osten.

Den Frieden suchen –
Gottes Geschenk

Inmitten einer friedlosen, verwundeten Welt begehen wir das Weihnachtsfest. Weltweit werden zurzeit über 50 Krisenherde und Kriegsschauplätze gezählt. Unzählige Menschen sind direkt oder indirekt betroffen – verwundet, vertrieben, geflüchtet oder getötet. Angesichts dieser vielen Entfremdungen des Menschen müssen wir alles versuchen, um die Kleinkriege in unserer unmittelbaren Umgebung zu beenden. Abrüstung der Worte. Der Gehässigkeit keinen Raum geben. Weihnachten ist kein billiges Trostpflaster oder das Schönreden einer heillosen Welt. Wir feiern das Geburtsfest der wichtigsten Person der Weltgeschichte. Er hat die Barmherzigen und Sanftmütigen seliggepriesen – und sein Leben in die Waagschale geworfen, um die Logik des Bösen zu durchbrechen. Weihnachten ist kein Kindergeburtstag. 

Quelle: H. Jesionka
Bischof Hermann Glettler

Öffnen wir uns dem Geist Jesu, der im Laufe der 2000 Jahre unzählige Menschen getröstet und inspiriert hat. Ihn aufzunehmen macht uns menschlicher, aufmerksamer und hörender. Und ehrlicher. Wir brauchen uns gegenseitig keine schönen Fassaden vorspielen. Was zählt, ist die Liebe, nicht ein perfekt durchgestyltes Fest. Nehmen wir uns Zeit füreinander und Zeit für ein einfaches Gebet. Der unnahbare Herrgott ist der „Hörgott“, wie ich ihn titelgebend für eine aktuelle Sammlung von Gebeten bezeichnet habe. Gott hört zu – sein Herz steht allen offen. Keine menschliche Stimme ist ihm fremd, keine leise und keine laute, keine fröhliche und keine verzweifelte. Feiern wir Weihnachten – nicht als Wunschkonzert netter Harmonie, sondern als Bestärkung der Hoffnungsgeschichte, die mit Jesus begonnen hat.

- Bildquellen -

  • Bischof Hermann Glettler: H. Jesionka
  • Bethlehem: Romolo Tavani – stock.adobe.com
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AUTORBischof Hermann Glettler
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