Die offizielle Einverleibung der neuannektierten Gebiete in den italienischen Staatsverband erfolgte am 10. Oktober 1920. Der am 10. September 1919 abgeschlossene Friedensvertrag von St. Germain-en-Laye regelte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Auflösung der österreichischen Reichshälfte und die Bedingungen für die neue Republik Österreich. Der Leiter der österreichischen Delegation, Dr. Karl Renner, unterzeichnete den 381 Artikel umfassenden Vertrag am 10. September 1919. Der Habsburger Doppelmonarchie und dem Deutschen Kaiserreich wurde die Alleinschuld am Krieg zugewiesen. Deshalb wurde mit Österreich nicht verhandelt und die Bedingungen für den Frieden wurden von den Siegermächten diktiert. Nach Inkrafttreten des Vertrages am 16. Juli 1920 blieb von der einstigen europäischen Großmacht nur noch ein Kleinstaat mit 6,5 Millionen Einwohner übrig. Am 10. Oktober 1920 wurde Südtirol von Italien offiziell annektiert.
Am 24. September 1920 stimmte der Senat in Rom für ein Annexionsgesetz, mit dem die im Vertrag von Saint-Germain Italien zugesprochenen Gebiete mit königlichem Dekret zu festen Bestandteilen des italienischen Staates erklärt wurden. Am 10. Oktober 1920 trat es also in Kraft. In Südtirol nannte man dies eine „Schandtat“ vor der Geschichte. In einem Aufruf der Parteien wurde Südtirol als „Opfer des Friedensvertrages“ bezeichnet und auf die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes hingewiesen. Gleichzeitig äußerte man die Hoffnung auf „nationale Befreiung“. Die Bevölkerung wurde allerdings aufgefordert, „jede Ungesetzlichkeit zu vermeiden und mit Ruhe und Würde das Schicksal zu tragen“. Zu irgendwelchen Zwischenfällen kam es nicht.
Großer Landestrauertag
Die Reaktion in Nordtirol war heftiger. Am Tag der Annexion wurde ein großer „Landestrauertag“ organisiert. Der Schulunterricht entfiel am 9. Oktober 1920, die Schüler wurden über die Bedeutung des Tages aufgeklärt. Die Geschäfte blieben geschlossen, in Kinos wurden keine „unwürdigen Programme“ gezeigt. Am Abend des 9. Oktober läuteten die Kirchenglocken im ganzen Land, am 10. Oktober gab es Trauersitzungen von Landtag und Landesregierung, Gemeinderat, Senat der Universität und Andreas-Hofer-Bund sowie Trauergottesdienste in jeder Gemeinde. Öffentliche Gebäude und Kirchen waren schwarz beflaggt. Mit ohnmächtiger Wut reagierte die Nordtiroler Presse. In den „Innsbrucker Nachrichten“ hieß es auf Seite 1: „Und Trauerfahnen wehen …“ Im „Tiroler Anzeiger“: „Adler, Tiroler Adler! Nicht verzage!“ Die Artikel waren mit schwarzem Trauerrand versehen.
In den darauffolgenden Wochen fanden weitere Trauersitzungen des Tiroler Landtages, so am 16. November 1920, der Tiroler Landesregierung sowie der Gemeinderäte statt. Am 15. Dezember 1920 schieden die Südtiroler Vertreter aus dem Tiroler Landtag aus. Ein Jahr später erklärte der Innsbrucker Bürgermeister Wilhelm Greil in einer außerordentlichen Sitzung des Gemeinderates: „Kein Volk der Erde hat eine so tiefe, innige Heimatliebe wie die Tiroler. Unser ganzes Volk fühlt es in tiefster Seele, dass Süd- und Nordtirol ein untrennbares Gebiet ist, welches zusammengehört. Wir können ohne Südtirol nicht leben, und Südtirol nicht ohne Nordtirol.“ Von nun an wurden Jahr für Jahr – nachweislich bis 1936 – jeweils am 10. Oktober, dem „Landestrauertag“, solche Sitzungen mit mehr oder weniger demselben Programm durchgeführt, jeweils organisiert vom Andreas-Hofer-Bund.
Das Land Tirol im Rahmen des österreichischen Staates wies im Jahre 1920 aufgrund des Friedensvertrages von Saint-Germain eine Fläche von 12.647 km2 und 306.304 Einwohner auf. Sie verteilen sich auf zwei nicht zusammenhängende geographische Bereiche nördlich des Alpenhauptkammes (Nordtirol) und auf das südlich davon gelegene Gebiet der Bezirkshauptmannschaft Lienz, wofür sich die Bezeichnung Osttirol einbürgerte.
- Bildquellen -
- Landtag Südtirol Trauersitzung 1920: tiroler landesarchiv