BauernZeitung: Die Notfallzulassungen in der EU haben sich binnen eines Jahrzehnts weit mehr als verzehnfacht. Ist das ein Alarmsignal oder eher die der Realität geschuldete Antwort auf den hyperventilierenden Alarmismus durch Umweltschützer?
STOCKMAR: Die EU-Kommission hat mit dem Green Deal und der umstrittenen EU-Pflanzenschutzmittel-Verordnung, kurz SUR, enorme Einschränkungen für die Landwirtschaft in den Raum gestellt und damit Zweifel an der Versorgungssicherheit mit Agrarprodukten und Lebensmitteln ausgelöst. In Österreich haben wir stets darauf geschaut, für Saatgut eine eigene Sortenzüchtung zu haben, um uns selbst ernähren zu können. Dieser Pfad wird nun verlassen. Für Europa ist absehbar, dass wir uns in zehn Jahren nicht mehr selbst ernähren können.
Woran machen Sie das fest?
Vor 25 Jahren hatten wir für den Pflanzenschutz ungefähr 1.000 Wirkstoffe verfügbar, heute nur noch 300. Von diesen sind 80 gerade in Evaluierung, werden also neu bewertet. Neben der Anzahl der Wirkstoffe geht es auch um die Vielfalt der Wirkstoffgruppen gegen aufkommende Resistenzen. Nehmen wir das Beispiel Antibiotika: Noch gibt es etwa für die Humanmedizin sechs wirksame Gruppen, fünf kämpfen bereits mit Resistenzen. Ähnlich ist es beim Pflanzenschutz: Uns fehlt die Vielfalt! Hier kommt das Zulassungsverfahren ins Spiel: Wir brauchen weiterhin ein integriertes System im Anbau, also auch chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel und ergänzend dazu Alternativen. Notfallzulassungen sind die Antwort auf das, was wir immer öfter verlieren.
„Notfallzulassungen sind die Antwort auf das, was wir immer öfter verlieren.“
Kritisiert wird vor allem der laxe Umgang mit diesen Ausnahmen, weil zu lang oder automatisch wiederkehrend, oft prophylaktisch ohne konkrete Bedrohung genehmigt. Zu Recht?
Wenn EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen in ihrem Leitfaden die Ernährungssicherheit in den Mittelpunkt stellt und dafür auch die Einkommen der Landwirte in Betracht zieht, muss man ein Zulassungsverfahren entwickeln, das Pflanzenschutzmittel rascher erlaubt. Vor zwölf Jahren wurden 200 neue Produkte eingereicht, erst 100 davon wurden bearbeitet. Da stimmt doch etwas nicht! Es wird innovativ geforscht, sehr stark investiert, aber das ist doch kein Output.
Woran liegt das?
Es stockt oft an offenen Fragen der Beurteilung, speziell bei Alternativen für Bio.
Reden zu viele mit?
Ich weiß es nicht. Man sollte halt wissen, wohin die EU-Agrarpolitik in Sachen Ernährungssicherheit will und dann das Zulassungsverfahren entsprechend beschleunigen.
„Vor zwölf Jahren wurden 200 neue Produkte eingereicht, erst 100 davon wurden bearbeitet.“
Stimmt der Eindruck, dass die Landwirte und ihre Vertreter beim Argumentieren „pro Pflanzenschutz“ von den internationalen Herstellern oft alleine gelassen werden? Warum steckt die Agrochemiesparte nicht viel mehr Geld in breite Werbung, wie es die Pharmaindustrie täglich unausweichlich nicht nur im Fernsehen für Darmflorapräparate oder Potenzmittel macht, um aufzuklären?
Genau deshalb hat die IGP vor zwölf Jahren mit einer intensiven Kommunikation begonnen. Wir stehen für mehr Transparenz, weil es überhaupt nichts zu verheimlichen gibt. Wir führen seither gezielt den Dialog mit den Konsumenten, wie zuvor mit den Landwirten oder den Agrarvertretern.
Aber die Kritik kommt ja auch von Bauern.
Auch ich würde mir wünschen, dass man sich noch mehr öffnet. An sich sind die Türen für noch mehr Dialogarbeit geöffnet. In Österreich wurden gute Schritte gesetzt, europaweit könnte mehr passieren.
Wie wird also die IGP in den kommenden Monaten in Österreich über den notwendigen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln informieren?
Nur nörgeln hilft nicht. Wir haben jetzt weitere 18 Verbände und Stakeholder – insgesamt sind es 40 Personen – mit an Bord und entwickeln mit ihnen eine positive Agrarvision. Es geht um die Gesunderhaltung unserer Kulturpflanzen. Da gibt es sicher verschiedene Wege dorthin. NGOs lassen die Konsumenten oft im Glauben, dass die Landwirte Pflanzenschutz aus Jux und Tollerei einsetzen. Wir sagen, es braucht Pflanzenschutz, in welcher Form auch immer.
Als Hauptargumente dafür gelten Nahrungsmittelsicherheit und Souveränität. Angesichts von bis in die Abendstunden übervollen Supermarktregalen und gleichzeitig zig Tonnen Lebensmittelabfällen stellt sich zunehmend die Frage, ob gerade auf einem satten Kontinent wie Europa diese Gründe überhaupt ziehen. Wie sehen Sie dieses Dilemma?
Unser Prozess soll dazu dienen, das aufzuzeigen, allen voran die Sicherstellung der regionalen Produktion in Österreich, aber auch in Europa. Im Gemüse-, Obst- und Kartoffelbau, bei Rübe oder Raps sehen wir immer höhere Ernteverluste. Neben dem Wegfall von Pflanzenschutzmitteln zählen Klimaveränderungen und invasive Schädlinge zu den täglichen Herausforderungen. Und am Beispiel Energie wurde ja offenkundig, wie schnell es gehen kann, wenn man sich zu sehr in Abhängigkeiten von Importen begibt. So hat China einen Getreidevorrat von einem Jahr, Amerika für vier Monate, Europa etwas weniger. Da stellt sich vielleicht einmal die Frage: Bekomme ich überhaupt die benötige Ware und wenn ja, zu welchem Preis?
„Wir stehen für mehr Transparenz und Dialog mit den Konsumenten, weil es überhaupt nichts zu verheimlichen gibt.“
Braucht es vielleicht sogar immer wieder Missernten und solche Krisen, damit man Pflanzenschutz für gesunde Pflanzen überhaupt in die Köpfe der Leute bringt?
Gerade Österreich ist für mich ein Musterbeispiel, wie positiv sich die Landwirtschaft entwickeln kann. Wir haben bestausgebildete Landwirte, einen hohen Technisierungsgrad, sehr gute Böden und nach wie vor Familienbetriebe, die bewusst nachhaltig wirtschaften, um ihre Böden gesund für die Weitergabe an die nächste Generation zu erhalten. Daher sind die Bauern die kompetenten Experten. Leider fallen sie betreffende Entscheidungen nicht nur in Brüssel oft ungefragt über ihre Köpfe hinweg.
Anliegen der IGP: „Gesunde Pflanzen“
Die Auswirkungen des Klimawandels, ein steigender Druck durch Schaderreger und Wirkstoffverbote gefährden die Gesundheit der Pflanzenstände und damit die regionale Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln. Die IGP hat daher einen Visionsprozess gestartet, der die „gesunde Pflanze“ in den Fokus rückt und sie zum zentralen Ziel der Agrarpolitik für die kommenden Jahre machen soll. Ziel ist es, mit 18 Organisationen aus dem Agrarbereich ein gemeinsames Verständnis für integrierten Pflanzenschutz zu entwickeln und mit drei runden Tischen bis September Forderungen an die Agrarpolitik auf den Weg zu bringen, die beim „IGP Dialog“ im November vorgestellt werden sollen. Erklärtes Ziel der IGP ist es, den Pflanzenbausektor und die Betriebe für das Ziel „gesunde Pflanzen“ zu mobilisieren sowie Konsumenten zu erreichen und vom Nutzen von Pflanzenschutz zu überzeugen.
Zur Person: DI Dr. Christian Stockmar (61) leitet seit 2005 die Firma Syngenta Agro Österreich und ist Obmann der IndustrieGruppe Pflanzenschutz (IGP).
- Bildquellen -
- Pflanzenschutz in Zuckerrüben: agrarfoto.com
- Christian Stockmar: IGP