Gut 22 Jahre nach Verabschiedung der EU-Rechtsvorschriften für genetisch veränderte Organismen (GVO) wurde das bestehende Regulativ „Basierend auf wissenschaftlichen Fakten“ nachgebessert, teilte der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, vergangene Woche mit. Künftig sollen Pflanzen aus sogenannten Neuen Genomischen Techniken (NGT) nicht länger als gentechnisch verändert klassifiziert werden, sondern nach einem Prüfverfahren wie GVO-freie Pflanzen vermarktbar sein. Sofern NGT-Pflanzen auch in der Natur entstanden oder konventionell gezüchtet hätten werden können, entfielen somit künftig aufwendige Risikobewertungen und eine Kennzeichnung am Endprodukt.

In Brüssel erhofft man sich durch den auf Basis von zahlreichen Gutachten der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) erstellten Entwurf künftig gezielter und schneller reagieren zu können als die konventionelle Pflanzenzüchtung. Herausforderungen wie der voranschreitende Klimawandel, aber auch selbstgesteckte Pflanzenschutzmittel-Reduktionsziele sollen somit leichter gemeistert werden. Eine Ausnahme bleibt jedoch die Bio-Landwirtschaft. Dort werde NGT-Pflanzenmaterial gemäß den GVO-Vorschriften der Bio-Verordnung weiterhin verboten bleiben.

Massive Proteste

Bereits vor der offiziellen Präsentation der novellierten Verordnung formierte sich in der traditionell gentechnikfreien Alpenrepublik eine Protestbewegung erster Klasse. NGOs, vom Saatgut-Spezialisten Arche Noah bis zu Global 2000, laufen Sturm gegen den Gesetzesentwurf, Brüssel habe den „Forderungen der Saatgut- und Chemieindustrie“ nachgegeben und verzichte künftig zugunsten großer Agrarkonzerne auf Risikoabschätzungen, klare Kennzeichnung und Koexistenzregeln mit dem GVO-freien Landbau. Noch eins drauf setzt Handelsverbandsgeschäftsführer Rainer Will, der eine eigens in Auftrag gegebene Umfrage präsentierte, wonach 94 Prozent der Österreicher für eine Beibehaltung der Zertifizierung als „gentechnisch verändert“ votiert hätten.

Selbst die Bundesregierung in Wien erteilt dem Vorschlag der EU-Exekutive prompt eine Absage. Österreich sei Vorreiter der Bio- und der gentechnikfreien Landwirtschaft, strenge Regelungen auch für die sogenannte „neue Gentechnik“ seien gemeinsame Regierungsposition, eine Lockerung „gefährdet die Wahlfreiheit der Konsumenten“, teilt etwa Umweltministerin Leonore Gewessler mit. Ähnlicher Meinung ist auch Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig: „Der Vorschlag der Kommission konterkariert den österreichischen Weg der Landwirtschaft.“ Konkret sieht Totschnig die heimische Land- und Saatgutwirtschaft durch offene patentrechtliche Fragen bedroht, auch das Vertrauen der Konsumenten gerate dadurch in die Schwebe.

Das Verfahren im Detail

Doch was genau steckt hinter der ominösen neuen Gen-Editierung, die einer so umfassenden Änderung des Rechtsrahmens bedarf? Beim CRISPR/Cas-Verfahren wird mittels „Genschere“ das bestehende Erbgut einer Pflanze durch natürliche molekularbiologische Prozesse verändert, wie dies auch in der bekannten – und von der EU-Gentechnikverordnung seit jeher ausgenommenen – Mutationszüchtung geschieht.

Quelle: Bayerisches Umweltministerium
Die Tabelle zeigt schematisch, wie Mutationen den „Bauplan“ im Erbgut mehr oder weniger verändern. Mutationen treten auch natürlich auf. Bei Mutagenese und CRISPR/Cas werden sie gezielt hervorgerufen.

Damit unterscheidet sich dieses NGT-Verfahren wesentlich von der seit den 1990er-Jahren gebräuchlichen GVO-Züchtung, wo artfremde Genetik in das Pflanzenerbgut eingebracht wird. Professor Hermann Bürstmayr, Leiter des Instituts für Pflanzenzüchtung an der Universität für Bodenkultur, klärt auf: „Das Verfahren der Mutationszüchtung kennen und verwenden wir schon seit Jahrzehnten.“ Dabei wird das Genom einer Pflanze durch Chemikalien oder Strahlung zu Mutation angeregt, um eine Verbesserung der Pflanzeneigenschaften herbeizuführen. „Nahezu alle heute in Österreich verwendeten Braugerstensorten beziehen etwa ihre Mehltauresistenzen aus der Mutagenese“, weiß Bürstmayr. Auch die Sorten im Biolandbau, wie er ergänzt.

30.000 Gene in einer Nutzpflanze

Einziges Manko: „Die Mutationen beim bisherigen Verfahren treten zufällig auf, die Suche nach dem gewünschten Basenpaar im Genom kommt der einer Nadel im Heuhaufen gleich“, so der Pflanzenzüchter. Demnach besitzen gebräuchliche Kulturpflanzen etwa 30.000 Gene, zehntausende Mutationen müssten erfolgen, um eine einzige Pflanzeneigenschaft zu optimieren. Bürstmayr: „Danach sind außerdem die ungewünschten Auswirkungen wieder rückzukreuzen, ein jahrelanger Prozess.“
Genau hier spielt die neue Genschere ihre Stärke aus. „Kleine, punktgenaue Mutationen werden damit möglich.“ Die Abläufe in der Züchtungsarbeit ließen sich so erheblich beschleunigen, „etwa drei bis vier Mal so schnell“, schätzt der Boku-Wissenschafter.

Hermann Bürstmayr: “Ein weiteres Werkzeug neben der konventionellen Züchtung, aber kein Wundermittel.“

Und es gibt bereits erste Ergebnisse wo mit CRISPR/Cas Züchtungserfolge erzielt werden konnten. 700 Versuche in über 40 Pflanzenarten brachten beispielsweise bessere Schädlingsresistenzen oder Eiweiß- oder Fettsäurezusammensetzungen zutage. Hermann Bürstmayr begrüßt die Entwicklungen in Brüssel und beruhigt: „Nach unserem Wissensstand wird diese Methode nicht mehr Probleme bringen als die klassische Züchtung. Sorten werden erst in den Handel gelangen, wenn sie auch eine verbesserte Eigenschaft aufweisen.“ Ersetzen wird das NGT-Verfahren die klassische Züchtung seiner Ansicht nach nicht: „Es handelt sich um ein weiteres Werkzeug neben der konventionellen Züchtung, aber kein Wundermittel.“

Die Boku ist mit ihrem Standpunkt nicht allein. Die Rektoren aller namhaften österreichischen Universitäten haben unter Federführung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bereits in einem offenen Brief um eine vorurteilsfreie Debatte der neuen Verfahren gebeten und tun es damit der deutschen Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina sowie der European Academies Science Advisory Council gleich.

Offene Fragen

Im Brüsseler Gesetzesvorschlag ungeregelt bleibt, wie mit Patenten auf NGT-Pflanzen umzugehen wäre. Hier besteht die Befürchtung, dass sich große Saatgutkonzerne Einfluss auf Saatgut und Lebensmittel sichern könnten und damit kleinere Züchter verdrängen. Die EU-Kommission will deshalb bis 2026 einen Bericht diesbezüglich vorlegen und bis dahin die Entwicklungen überwachen. Ungeklärt bleibt auch die Frage, wie die Umsetzung des Verbots für Bio-Bauern gestaltet werden soll. Die EU sieht die Nationalstaaten in der Pflicht, entsprechende Regulative – wie etwa Abstandsregelungen – zu schaffen.

AGES-Dialog angekündigt

Die Gesetzesnovelle wird nun das ordentliche Gesetzgebungsverfahren durchlaufen und bedarf der Zustimmung von Rat und EU-Parlament. Sollte sich die EU oder Österreich gegen eine Verwendung von CRISPR/Cas als GVO-freie Züchtung aussprechen, könnte die Saatgutwirtschaft und Forschung ins Hintertreffen geraten. Bürstmayr: „Man kann Entwicklungen nicht aufhalten. Andere Teile der Welt werden die Methoden anwenden, Sorten und Gene werden früher oder später also auch die EU erreichen.“ Für ihn stellt sich die Frage, ob der hiesigen Landwirtschaft ein Zugang wirklich verwehrt bleiben soll: „Können wir in zehn Jahren rechtfertigen, dass Landwirte eine krankheitsresistente Sorte nicht verwenden dürfen, obwohl es sie gäbe?“
Immerhin: Minister Totschnig hat angekündigt, den Vorschlag der EU-Kommission im Rahmen einer AGES-Dialogplattform mit allen Akteuren zu diskutieren.

- Bildquellen -

  • Mutationen: Bayerisches Umweltministerium
  • Pflanzenzüchtung: kpg_ivary - stock.adobe.com
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AUTORClemens Wieltsch
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