„Arbeit der Bauern ist so wichtig wie IT“

Wolfgang Schüssel hat viele seiner Notizen nun in einem Buch zusammengefasst. („Was. Mut. Macht.“, Wolfgang Schüssel Verlag Ecowin, 420 Seiten, 26 Euro) Im September hält Schüssel auf der Wallfahrt des NÖ. Bauernbundes in Mariazell die Festrede.

Am 7. Juni feierte Alt-Kanzler Wolfgang Schüssel seinen 75. Geburtstag. Sein neues Buch mit kurzen Bemerkungen und Anekdoten zu Österreich, Europa, der Welt, teils mit sehr persönlichen Anmerkungen, liest sich wie Auszüge aus einem Tagebuch.

Interview: Bernhard Weber

Bauernzeitung: Nach Ihrem Abschied 2007 aus der Politik haben Sie sich eher rar gemacht. Warum gerade jetzt dieses Buch?

Schüssel: Gute Frage. Ich habe mich nicht rar gemacht, aber nach fast 40 Jahren im Parlament, knapp 20 Jahren in der Regierung, davon sieben Jahre als Bundeskanzler, nicht mehr die Innenpolitik kommentiert. Ich habe immer die Türe hinter mir zugemacht, wenn ich eine Aufgabe abgeschlossen und etwas Neues begonnen habe. Als Mitglied einiger internationaler Gremien und Aufsichtsräte habe ich genug zu tun. Außerdem habe ich immer publiziert und auch Bücher geschrieben, aber keine Memoiren. Solche liest ja auch niemand. Mein neues Buch mit Erfahrungen, Begegnungen sowie Gedichten und Buchtipps interessiert vielleicht einen größeren Kreis. Es war eigentlich nicht geplant für die Corona-Krise. Ein Zufall, wie vieles in meinem Leben. Als einst die neuen Kennzeichen vergeben wurden, wurde mir für mein Privatauto vom Behördencomputer zufällig die gleiche Nummer wie die damalige Telefonnummer des Außenministeriums und bis heute des Kanzleramtes zugeteilt. Zufall, vielleicht auch Fügung (schmunzelt)?

Der Titel lautet „Was. Mut. Macht.“. Die Corona-Pandemie bestimmt seit März unser Leben. Sie hat massive wirtschaftliche Folgen. Was macht Ihnen trotz allem Mut?

Erstens der Blick zurück. Ich bin gleich alt wie die Republik, geboren 1945 unmittelbar nach Kriegsende. Im Bauch meiner Mutter habe ich die schweren Bombenangriffe auf Wien überlebt, wir waren sogar in einem Keller verschüttet. Österreich war damals ein bitterarmes Land. Heute ist es eines der erfolgreichsten Länder Europas, sogar der Welt. Zweitens: Der Blick in die Gegenwart. Früher haben wir mit jedem unserer acht Nachbarländer Krieg geführt. Heute leben wir mit ihnen in Frieden und Freundschaft, weitgehend vereint in einer Union. Wir sind wirtschaftlich stark. So ist auch der Blick nach vorne ein Mutmacher. Die Jungen sind heute besser ausgebildet als wir es waren, haben viel mehr Chancen. Der „Öster-Reichtum“ ist also enorm. Das sind doch Argumente.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Probleme unseres Landes?

Die Bewältigung des Shutdown, bei dem über drei Monate alles heruntergefahren wurde. Und es ist ja noch nicht vorbei. Wir müssen vorerst mit der Pandemie leben und kluge Antworten darauf finden: national betreffend unsere Gesundheit, Spitäler und Wirtschaft und europäisch, wie wir uns in Hinkunft besser dagegen wappnen können, vom Schutz der Grenzen bis zur medizinischen Reservehaltung von Medikamenten oder Schutzbekleidung. Das gehört europäisch koordiniert.

Geben Österreichs Regierung wie auch die EU generell die richtigen Antworten auf die Pandemie?

Niemand hat ein Patentrezept. In so einer dramatischen Umbruchsituation ohne Drehbuch politische Entscheidungen zu treffen, heißt mit sehr vielen Unwägbarkeiten und unvollständigen Informationen umzugehen. Das haben der Bundeskanzler und sein Team hervorragend gemacht. Jetzt geht es darum, den Wiederaufbau zu begünstigen. Aber unsere Wirtschaft ist ja nicht zerstört, sondern nach wie vor funktionsfähig. Wir müssen jetzt den Konsum beleben. Das wird nicht einfach, manche sagen, es wird einige Jahre dauern.

Auch Bauern haben mit den Folgen zu kämpfen, mit Absatzproblemen und Preisverfall. Zeigt diese Krise, dass bisher etwas falsch gelaufen ist? Und wie soll man gegensteuern?

Ich bin immer vorsichtig mit pauschalen Aussagen. In der EU wurde eine ausgewogene, kluge Politik gemacht, was den Umgang mit der Natur, mit Landwirtschaft, auch mit Nahrungsketten betrifft. Die Arbeit unserer Bauern ist enorm wichtig wie IT oder Infrastruktur. Dass wir uns in einer kritischen Situation selbst versorgen können in Europa, finde ich ungemein wichtig. Auch in Österreich. Die Landwirtschaft ist heute ein unverzichtbarer, integraler Bestandteil der Wirtschaft. Aber kein Bauer kann mehr von der Landwirtschaft im engeren Sinn leben, ohne Tourismus, Handel, Gewerbe. So sind auch die Sozialversicherung der Bauern und der Wirtschaft mittlerweile unter einem Dach. Vermutlich wird auch einmal die wirtschaftliche Vertretung zusammenwachsen. Es gibt ja keinen Grund mehr für unterschiedliche Ansätze. Weil der Handel in Österreich einen hohen Konzentrationsgrad erreicht hat, spielt er seine Marktmacht aus. Daher muss man die Konsumenten ins Boot holen und um ihr Verständnis für faire Preise werben, weil nur solche die uns so selbstverständliche tägliche Verfügbarkeit unserer Lebensmittel in hoher Qualität garantieren. Das halte ich für entscheidend. Und noch eine Anmerkung: Es ist unfair, wenn manche kritisieren, dass die EU einen großen Teil des Agrarbudgets finanziert. No na, von Anfang an war Agrarpolitik richtigerweise Gemeinschaftspolitik, während andere Bereiche nach wie vor nationale oder gemischte Kompetenzen sind.

Sollte den Bauern Mut machen, dass die Landwirtschaft mittlerweile als „systemrelevant“ gilt? Und teilen Sie als sehr wirtschaftsliberaler Ex-Politiker diese Einstufung von Türkis-Grün?

Das Systemrelevante der Landwirtschaft und des gewerblichen Mittelstandes war für mich immer eine selbstverständliche Voraussetzung unserer sozialen Marktwirtschaft. Das schließt ja nicht aus, in manchen Bereichen liberal zu sein. Als junger Minister habe ich noch Preisregelungen für alles mögliche erlebt, von Benzin bis Brot. Das hat niemandem gedient. Mehr Liberalität und Offenheit von Ladenöffnungszeiten bis Außenhandel hat allen geholfen, auch den Bauern. Wir alle dienen der Gemeinschaft, auch Bauern, indem sie die Menschen versorgen. Wenn aber eine Gruppe glaubt, sie könne sich auf Kosten anderer bereichern, wird das auf Dauer nicht funktionieren.

„Man darf sich nicht scheuen, aus der eigenen Echoblase herauszutreten.“
Wolfgang Schüssel

Ich habe gelesen, Sie erwarten von Medien, die Sie konsumieren, dort auch Meinungen zu finden, die der Ihrigen widersprechen. Gibt es ein Beispiel aus Ihrer politischen Zeit, wo sie hernach die eigene Meinung völlig revidiert haben?

Na sicher. Etwa erst jüngst im Zusammenhang mit dem Sturz von Denkmälern in aller Welt. Ich habe vorerst gedacht, um Gottes Willen fangen wir jetzt an, die Toten noch einmal zu töten? Bei allem Respekt, es gab ja viele Heerführer, Fürsten, auch Staatenlenker oder Philosophen, die anderen Leid zugefügt oder unsägliche Theorien verzapft haben. Dann habe ich die Rede einer dunkelhäutigen Abgeordneten im EU-Parlament gehört, die mich sehr bewegt und nachdenklich gemacht hat. Oder die ganzen Diskussionen um die Flüchtlingsbewegung 2015. Natürlich muss die EU illegale Migration bremsen und nicht dazu ermutigen. Aber weil die Amerikaner, Chinesen, auch wir Europäer, die Gelder für Flüchtlinge in den UNO-Lagern von ohnehin nicht üppigen 35 auf 13 Dollar pro Monat an die UNO vorher drastisch gekürzt haben, haben sich dann Zehntausende auf die Reise gemacht, zu Fuß, um dem zu entkommen. Es genügt eben nicht nur die Balkanroute zu schließen, wir müssen auch internationale Organisationen unterstützten. Noch ein Beispiel: Josef Hesoun, alter Baugewerkschafter und Sozialminister, hat massiv für ein Pflegegeld geworben. Als Wirtschaftsminister habe ich mich überzeugen lassen. Gott sei Dank, heute ist dieses ein ganz wesentlicher Beitrag zur sozialen Sicherheit in Österreich. Gerade wenn man eine Meinung hat, darf man sich nicht scheuen, aus seiner eigenen Echoblase herauszutreten, um auch anderen Argumenten zuzuhören.

Im Buch schreiben Sie, das Engagement junger Aktivisten für Klimaschutz sei „Ausdruck der ungebrochenen Anziehungskraft und Standfestigkeit Europas“. Heißt das, Ihre Enkelin Elsa dürfte künftig freitags vor dem Bundeskanzleramt demonstrieren?

(lacht) Da hat sie mit dreieinhalb Jahren noch etwas Zeit. Fridays for Future finde ich legitim. Ich bin inhaltliche weit weg von vielen Vorschlägen, die dort genannt werden, aber ich finde es positiv in einer Zeit, in der alle von Politikverdrossenheit reden, dass es genügend Junge gibt, die sich für etwas einsetzen. Heute matchen sich in den USA ein 74jähriger und ein 78jähriger. Da ist mir das österreichische Modell mit Sebastian Kurz und einer jungen Generation am Ruder zehn Mal lieber.

Gibt es unter den 200 Notizen im Buch eine, die Sie unbedingt veröffentlichen wollten?

Alle. Ich hätte noch 200 weitere gehabt. Aber dann wäre es wohl ein unlesbarer Ziegel geworden. Auch wollte der Verlag noch einige Zeichnungen, dafür wurde das Inhaltsverzeichnis gestrichen. Es sind einige Texte im Buch, die mir wichtig waren, etwa Psalmen aus dem alten Testament und Gedichte. Oder eine Erinnerung an eine Rede des ehemaligen Präsidenten Israels Shimon Peres am Comer See an seine europäische Freunde. Er kritisierte vor allem unseren Pessimismus. Drei Tage später erlitt er einen Gehirnschlag, bald darauf ist er gestorben. Ein Jahr später kam sein Sohn zur gleichen Konferenz. Wenige Tage vor dessen Tod hatte er seinen damals 93jährigen Vater gefragt, ob er etwas in seinem Leben bedauert. Peres antwortete: „Meine Träume waren nicht groß genug.“ Das macht mir Mut. Wir sollten nie aufhören zu träumen und uns selbst, aber auch anderen, etwas zumuten.

Sie gelten als begnadeter Schnell-Zeichner, das Buch ist mit Ihren Zeichnungen illustriert. Haben Sie auch agrarische Karikaturen drauf?

Ich habe seit meiner Jugend immer wieder gekritzelt, auf Hefte, Schulsachen, Mauern. Ich kann nicht anders. Es waren wohl Zehntausende Zeichnungen. Es ist auch nicht begnadet, keine Kunst, besser eine Ausdrucksform. Ich habe mich sogar einmal als Zeichner beim Volksblatt beworben, wurde aber abgelehnt. Wer weiß, was aus mir geworden wäre…

Sollten Sie nochmals das Bedürfnis verspüren, als Karikaturist arbeiten zu wollen, steht Ihnen die BauernZeitung zur Stelle…

Zur Person

Dr. Wolfgang Schüssel (75) amtierte nach verschiedenen politischen Funktionen im Wirtschaftsbund ab 1989 als Wirtschafts-, ab 1995 auch als Außenminister und Vizekanzler sowie von 2000 bis 2007 als Bundeskanzler. Schüssel ist verheiratet, zweifacher Vater und seit 2016 Großvater. In seiner Freizeit widmet er sich Büchern, der Kunst, der Musik und dem Fußball. Im September wird er bei der traditionellen Wallfahrt des NÖ. Bauernbundes nach Mariazell die Festrede halten.

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