Herr Professor, warum empfehlen Sie eine drastische Reduzierung des Fleischkonsums auf 10 Gramm, das entspricht einer Scheibe Wurst am Tag?
WATZL: Da liegt ein großes Missverständnis vor. Wir haben noch überhaupt keine neuen lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen ausgesprochen.
Woher kommen dann die 10 Gramm?
Wir sind gegenwärtig dabei, ein neues Optimierungsmodell zu entwickeln. Bislang haben wir lediglich eine erste Version dafür. Das haben wir der Fachwelt vorgestellt und um Einschätzungen gebeten. Mehr ist da noch nicht. Neue Empfehlungen für Lebensmittel werden wir frühestens Anfang nächsten Jahres herausgeben.
Nochmal: Wie kommen die 10 Gramm in die Welt?
Das liegt an einzelnen Medien, die nicht verstanden haben, was es mit diesem Modell auf sich hat.
Erklären Sie es uns!
In dieses Modell gehen vier Zielgrößen ein. Zunächst die Nährstoffversorgung, die für uns als Ernährungswissenschaftler an oberster Stelle steht. Zum Zweiten fließt die Gesundheitsdimension in das Modell ein, also mögliche Zusammenhänge zwischen Ernährungsweisen und Krankheitsrisiken, etwa das Herz-Kreislauf-Erkrankungsrisiko. Wir berücksichtigen auch die üblichen Ernährungsgewohnheiten, weil es sonst keinen Sinn macht, in Empfehlungen zu stark davon abzuweichen. Schließlich fließen Umweltwirkungen in das Modell ein.
Warum letztere?
Wir befolgen damit einen Rat, den die Weltgesundheitsorganisation schon 2019 für die Entwicklung von lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen erteilt hat.
Ihre Gesellschaft steht für Ernährungskompetenz. Sie sind keine Umweltwissenschaftler. Überschätzen Sie damit nicht ein wenig Ihre Kompetenzen?
International besteht Einigkeit darin, dass wir für eine nachhaltigere Lebensweise die jeweiligen Umweltwirkungen einbeziehen müssen. Das betrifft die Art, wie wir wohnen genauso wie die Mobilität und eben auch unsere Ernährung. Unser Agrar- und Ernährungssystem von der Erzeugung bis zum Teller oder sogar bis in die Abfalltonne ist nun einmal signifikant mitverantwortlich für die Treibhausgasemissionen. Es steht also außer Frage, dass sich auch die Ernährungswissenschaft Gedanken machen muss, wie wir da weiterkommen.
Sie bewegen sich dabei aber auf einem für Sie fachlich fremden Terrain. Sehen Sie darin kein Problem?
Zum einen sind die Ernährungswissenschaften per se sehr breit aufgestellt. Da geht es nicht nur um Biologie, Biochemie oder Physiologie. Die Themen reichen bis zu Ernährungsverhalten, Ernährungsökonomie und Ernährungssoziologie. Zum anderen haben wir inzwischen auch in den wichtigen Umweltfragen Expertise erarbeitet und stehen zudem in Kontakt zu anderen wissenschaftlichen Institutionen wie dem Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, dem Thünen-Institut oder dem Umweltbundesamt. Für uns ist das überhaupt nicht neu, dass wir multi- und interdisziplinär solche komplexen Themen angehen. Keine Fachdisziplin kann so etwas allein.
Sind die vier genannten Zielgrößen alle gleich wichtig?
Nein. Wie die Gewichtung am Ende tatsächlich ausfällt, ist zum gegenwärtigen Stand völlig offen. Derzeit führen wir Modellrechnungen anhand unterschiedlicher Gewichtungen mit konkreten Zahlen durch. Vielleicht war es taktisch nicht klug, mit diesen in die für die Fachwelt gedachten Konsultationen zu gehen, die dann wiederum in der Öffentlichkeit zu Missverständnissen geführt haben. Aber nochmal: Unser mathematisches Optimierungsmodell ist ein sehr sinnvoller Ansatz, weil man diese verschiedenen Zieldimensionen zusammenführen kann.
Wie wird sich Ihre künftige Verzehrempfehlung für Fleisch von der bisherigen unterscheiden?
Das wird man sehen. Wir haben schon seit Jahren die Empfehlung zwischen Null und 600 Gramm Fleisch pro Woche. Wir sagen, es ist in Ordnung, kein Fleisch zu essen. Es ist aber auch kein Problem, 300 Gramm Fleisch in der Woche zu essen oder unter bestimmten Voraussetzungen auch 600 Gramm. Das hängt davon ab, ob es sich um Männer, Frauen, alte oder junge Menschen handelt und wie hoch der Energiebedarf ist. Wenn jemand nur 1800 Kilokalorien am Tag an Energie verbraucht, ist der Spielraum für Fleisch selbstverständlich geringer als bei einem Verbrauch von 3000 bis 4000 Kilokalorien, weil er körperlich aktiv ist.
Wird es weiterhin konkrete Mengenempfehlungen geben?
Das ist noch offen. Ich bin überzeugt, unser Modell wird auf längere Sicht die Basis sein, auf der wissenschaftlich begründet Ernährungsempfehlungen formuliert werden können. Wir werden künftig noch besser untermauern können, was wir schon seit längerem sagen, nämlich dass die Ernährung überwiegend pflanzenbasiert sein sollte.
Aber am Ende wird dann wieder wie bislang eine Obergrenze für Fleisch stehen?
Das ist noch nicht entschieden.
Inwiefern spielen dennoch politische Erwartungen oder Hinweise für Ihre Arbeit eine Rolle?
Die DGE überarbeitet immer wieder ihre Ernährungsempfehlungen. Der Entschluss für ein neues Optimierungsmodell fiel 2018. Damals war (die CDU-Politikerin, Anm.) Julia Klöckner Bundeslandwirtschaftsministerin. Unsere jetzige Arbeit hat also nichts mit der momentanen politischen Konstellation zu tun.
Welche Rolle spielt die geplante Ernährungsstrategie der Bundesregierung?
Keine. Uns geht es um die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, unabhängig von der jeweiligen Bundesregierung oder einer Partei, die gerade in der politischen Verantwortung steht. Die von mir geleitete Arbeitsgruppe wird hoffentlich Anfang nächsten Jahres lebensmittelbezogene Ernährungsempfehlungen vorlegen, voraussichtlich wieder in der Form von zehn Regeln, daran werden wir festhalten.
Wie sollte sich der Verzehr tierischer Lebensmittel entwickeln?
Die Ernährung sollte pflanzenbasiert sein, also pflanzenreich, nicht vegan oder vegetarisch, aber mit einer geringeren Zufuhr an tierischen Lebensmitteln, als es derzeit der Fall ist. Das sagen wir seit vielen Jahren, daran wird sich nichts ändern.
Bedeutet „pflanzenreich“ letzten Endes irgendwann ausschließlich pflanzlich?
Nein. Das ist aus vielerlei Gründen keine ernährungswissenschaftlich sinnvolle Empfehlung. Wir brauchen nicht absolut die tierischen Lebensmittel, aber in der Masse ist es ganz klar, dass deren Verzehr viele Vorteile bietet. Die Limitierungen einer veganen Ernährung sind offensichtlich. Wir wissen viel über vegane Ernährung und können sagen, welche Supplemente ergänzt werden sollten. Im Gegensatz dazu werden wir weiter eine Ernährung empfehlen, die weder Fleisch, Fisch und Meeresprodukte noch Obst oder Gemüse ausschließt, aber aus unserer Sicht pflanzenbetont sein sollte.
Essen Sie Fleisch?
Ja, gern. Aber wenig. Meistens am Wochenende. Dabei lege ich Wert auf eine gute Fleischqualität.
Woran machen Sie diese fest?
Ich möchte wissen, wie das Tier gelebt hat. Freilandhaltung beim Huhn ist für mich eine Voraussetzung, und Biohaltung finde ich wegen der Fütterung gut. Natürlich kann und muss nicht jeder Bioprodukte kaufen. Das wird gar nicht gehen. Aber letztendlich ist es für mich leicht umsetzbar, und ich genieße dann ein Stück Fleisch und Wurst. Das hat für mich auch viel mit Esskultur zu tun, bis hin zu einer Blutwurst, die viele nicht mehr mögen. Aber wenn die gut gemacht ist und aus guter Haltung kommt, dann ist das für mich etwas, was ich gern esse.
Zur Person: Prof. Bernhard Watzl ist seit vergangenem Herbst Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Das Gespräch wurde von Agra-Europe geführt.
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