Von der weitgehenden Aufgabe der heimischen Agrarproduktion bis hin zur möglichst smarten Landwirtschaft, die Österreich nachhaltig mit hochwertigen Lebensmitteln versorgen kann – das sind zwei von vier möglichen Szenarien für die Landwirtschaft, die der Trendforscher Matthias Horx für die Hagelversicherung erhoben hat.
Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, lautet eine längst allseits bekannte Weisheit von Berthold Brecht. Die Grund- voraussetzung für moralisches Handeln, also die landwirtschaftliche Produktion von Lebensmitteln, kommt aber in Österreich immer mehr in Bedrängnis. Laut Hagelversicherung verlieren, ja zerstören wir in Österreich jedes Jahr durch ungebremste Verbauung von 4.200 Hektar Agrarfläche. Das entspricht einer Menge von 25,2 Millionen Kilogramm Brotgetreide pro Jahr (4.200 ha mal durchschnittlich 6.000 kg/ha) oder dem jährlichen Bedarf von Brot und Gebäck von knapp 300.000 Österreichern, das wiederum entspricht der Einwohnerzahl des Burgenlands.
Dazu kommt der Klimawandel mit vermehrten Schäden durch Trockenheit und extremen Wetterereignissen. Gleichzeitig führt uns der Ukraine-Krieg dramatisch vor Augen, wie katastrophal die Abhängigkeiten von anderen Staaten sein können und wie wichtig vor diesem Hintergrund ein hoher Selbstversorgungsgrad ist. Dieser lag laut den zuletzt verfügbaren Zahlen der Statistik Austria für das Jahr 2020 bei einigen Produkten hoch, etwa bei Trinkmilch (mit Joghurt) bei 177 % und für Rind- und Kalbfleisch bei 145 %. Bei den einigen befand er sich jedoch unter der 100 %-Marke. Der Bedarf konnte also nicht zur Gänze aus heimischer Produktion gedeckt werden. Beispiele dafür sind Getreide (88 %), Gemüse (55 %), Obst (45 %), pflanzliche Öle (30 %) und Fisch (7 %).
Schon seit vielen Jahren werden die landwirtschaftlichen Betriebe in Österreich weniger (1970: 368.000; 2020: 155.900) und gleichzeitig größer. Parallel dazu wurden die eingesetzten Maschinen größer und stärker. Momentan geht die Entwicklung vor allem in Richtung „Precision und Smart Farming“. Schon einige Jahre gibt es zudem eine Rückbesinnung auf die Umwelt und deren Schutz (Bionahrungsmittel/Biolandwirtschaft) oder gar auf anthroposophische Ideen.
Neue Megatrends
Doch welche Trends und Entwicklungen werden die Landwirtschaft in Zukunft wesentlich beeinflussen, und wie wird sie Mitte des Jahrhunderts aussehen? Die anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums der Hagelversicherung beauftragte Studie „Die Zukunft der Landwirtschaft in Österreich 2050+“ beim Zukunftsinstitut von Matthias Horx gibt dazu Antworten. Freilich sind diese nicht einfach. „Man muss wissen, dass jeder Trend einen Gegentrend erzeugt“, sagt Horx. Aus diesem Widerspruch entstehe eine neue Zukunftssynthese. Für den Trendforscher gibt es sechs Megatrends als „Zukunftstreiber“ auf dem Land: Neo-Ökologie, Gesundheit, Urbanisierung, Konnektivität, Globalisierung und Sicherheit. Daraus leitet Horx vier Szenarien für 2050 ab.
„Man muss wissen, dass jeder Trend einen Gegentrend erzeugt.“
#Szenario 1
Post-Landwirtschaft 2050: Nach dem weiterhin ungebremsten Bodenverbrauch und der anhaltenden Erderwärmung werden die schlimmsten Befürchtungen wahr. Heimische Agrarproduktion ist nicht mehr möglich, Österreich gibt seine Landwirtschaft weitgehend auf.
#Szenario 2
Stadt-Landwirtschaft: Die Grenzen der Städte verschieben sich weit in den ländlichen Raum hinein. Immer mehr Agrarflächen sind dann versiegelt, Urban Farming kann die entstehende Versorgungslücke nur partiell schließen. Österreich kann sich bei Weitem nicht mehr selbst versorgen und ist abhängig von Importen.
#Szenario 3
Biologische Landwirtschaft: Österreich bleibt weiterhin das Musterland der ökologischen Landwirtschaft und passt sich beispielhaft an die Herausforderungen des Klimawandels an. Doch Lebensmittel sind aufgrund höchster Produktionsstandards teuer, die Alpenrepublik bleibt hinter den eigenen Möglichkeiten zurück.
#Szenario 4
Robuste, smarte Landwirtschaft: Künftig ersetzen Satelliten und Drohnen weitestgehend die Augen und Ohren der Bauern auf dem Feld, Roboter ihre Hände. Im Einklang mit der Natur und dank Big Data lassen sich Anforderungen und Erträge in der Landwirtschaft präziser vorhersagen, wobei die Erträge durch die Zunahme der Wetterextreme zunehmend volatil werden. Die Lebensmittelversorgung ist durch den Erhalt der noch bestehenden Agrarflächen gewährleis-tet, Klimaschutz ist ein Gebot der Stunde.
Was zu tun ist?
Für Matthinas Horx ist klar: „Faktum ist: Nur ein hoch digitalisierter Agrarsektor mit ausreichend Agrarflächen kann die Balance zwischen Ernährungssicherheit, Umweltgesundheit und hochwertigen Produkten herstellen. Politik, Gesellschaft und (Agrar-)Wirtschaft müssen schon jetzt auf diese vier agrarischen Handlungsempfehlungen reagieren, damit diese smarte und nachhaltige Landwirtschaft 2050 keine Utopie bleibt.“ Dafür empfiehlt die Studie Folgendes:
1. Verständnis für Landwirtschaft und das Landleben fördern Bauern müssen wieder Wertschätzung für ihre Arbeit erfahren, damit auch kommende Generationen noch in der Landwirtschaft arbeiten wollen.
2. Faire Einkommen und Work-Life-Balance garantieren Die Politik muss den Preiskampf um landwirtschaftliche Produkte entschärfen, Konsumentinnen und Konsumenten müssen angemessenere Preise zahlen. Der Gesundheitsschutz der Landwirte muss darüber hinaus einen höheren Stellenwert bekommen.
3. Bodenschutz priorisieren Der Bodenverbrauch muss so schnell wie möglich gestoppt werden. Stadt- und Gemeindeentwicklung darf nicht mehr auf Kosten fruchtbarer Flächen betrieben werden. Innovativ planen und bauen, Leerstände nutzen, auch politische Zuständigkeiten und Steuern reformieren – effektiver Bodenschutz setzt an vielen Hebeln gleichzeitig an.
4. Nachhaltigkeit intensivieren Mehr Digitalisierung, moderne Tierwohlkonzepte, verstärkter Klimaschutz und wegweisende Pflanzenzüchtungen schaffen Sicherheit unter unsicheren (klimatischen) Bedingungen.
Es gibt also einiges zu tun, um die nachhaltige Versorgung mit heimischen Lebensmitteln sicherzustellen: „Die Landwirtschaft ist zweifelfrei eine Schlüsselbranche für die Zukunft der Menschheit. Von ihr kommen unsere Lebensmittel, sie gestaltet die Schönheit unseres Landes. Niemand kann in die Zukunft sehen, aber wir können sie gestalten. Zum Wohle der österreichischen Landwirtschaft und damit zum Wohle der zukünftigen Generationen!“, so Dr. Kurt Weinberger, Vorstandsvorsitzender der Hagelversicherung. Die Studie ist auch online verfügbar.
Megatrends als Zukunftstreiber
Neo-Ökologie: Individuelles Handeln orientiert sich immer stärker am Kriterium Nachhaltigkeit. Für immer mehr Menschen sind Bioprodukte kein Luxusgut, sondern Standard.
Gesundheit: Persönliches Wohlbefinden erhält höchste Priorität und wird ganzheitlich gedacht. Ein gesunder Körper braucht eine gesunde Seele und lebt in einer gesunden Umwelt.
Urbanisierung: Das Land wird städtischer, ländliche Lebensweisen gewinnen an Beliebtheit in urbanen Milieus – die Grenze zwischen Stadt und Land löst sich auf. Flächenversiegelung auf dem Land bedroht bäuerliche Betriebe, während in der Stadt mit dem Vertical Farming eine neue Nische entsteht.
Konnektivität: Digitale Technologien verbinden Menschen, Maschinen und Umwelt zu einem interagierenden Netzwerk. Big Data und Automatisierung leisten einer klimafreundlichen, bodenschonenden und ressourceneffizienten Landwirtschaft der Zukunft Vorschub.
Globalisierung: Agrarische Wirtschaftsweisen weltweit wirken auf die landwirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Österreich zurück. Die Republik kann wiederum eine Vorbildfunktion in Sachen ertragsorientierter, umweltschonender Landwirtschaft übernehmen.
Sicherheit: Wie und wie hart zukünftige Krisen den Agrarsektor treffen werden, ist noch nicht absehbar. Aber die Landwirtschaft kann selbstbestimmt den Handlungsrahmen setzen.
Laborfleisch in größerem Stil
Eine Verringerung des Fleischkonsums wird vielfach als ein Hebel für den Klima- und Umweltschutz gesehen, zeitgleich hat sich der weltweite Fleischkonsum in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt. Als eine mögliche Antwort darauf wird neben pflanzlichen Fleischersatzprodukten seit einigen Jahren an der Entwicklung von In-Vitro-Fleisch, also Fleisch im Labor, gearbeitet. Eine Umfrage des Instituts für Marketing der Universität für Bodenkultur hat erst kürzlich gezeigt, dass In-Vitro-Fleisch bei Konsumenten noch weitgehend unbekannt ist. Dennoch kann sich die Mehrheit der Befragten (61 %) – nach Erläuterung des Herstellungsverfahrens – prinzipiell vorstellen, In-Vitro-Fleisch zu probieren. Auch im größeren Maßstab ist heute bereits eine industrielle Produktion von künstlich kultiviertem Fleisch möglich. Die in Israel ansässige Firma Future Meat Technologies in Rehovot hat 2021 nach eigenen Angaben die weltweit erste industrielle Anlage hierzu eröffnet.
500 Kilogramm pro Tag werden dort mittlerweile produziert, was 5.000 Hamburgern entspricht. „Unsere Anlage macht eine skalierbare zellbasierte Fleischproduktion zur Realität. Und das ohne Gentechnik und ohne Verwendung von Tierserum. Unser Ziel ist es, kultiviertes Fleisch für jedermann erschwinglich zu machen und gleichzeitig sicherzustellen, dass wir köstliche Lebensmittel produzieren, die sowohl gesund als auch nachhaltig sind und dazu beitragen, die Zukunft der kommenden Generationen zu sichern“, sagt Yaakov Nahmias, Gründer und wissenschaftlicher Leiter von Future Meat Technologies. Im Vergleich zur herkömmlichen Fleischproduktion sollen in Rehovot immerhin 80 % weniger Treibhausgasemissionen, 99 % weniger Land- und 96 % weniger Süßwasserverbrauch anfallen. Future Meat Technologies will 2022 in den Vereinigten Staaten in die Regale kommen. In der EU ist seit dem 1. Jänner 2018 die Kommission für die Zulassung neuartiger Lebensmittel zuständig und kann im Rahmen des Verfahrens die EFSA ersuchen, eine wissenschaftliche Risikobewertung durchzuführen, um die Sicherheit der betreffenden Lebensmittel festzustellen.
- Bildquellen -
- Matthias Horx: Hagelversicherung
- Post-Landwirtschaft 2050: sima - stock.adobe.com
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- Biologische Landwirtschaft: Tatjana Balzer - stock.adobe.com
- Robuste, smarte Landwirtschaft: america_stock - stock.adobe.com
- Labor: Future Meat Technologie
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