Kommentar von Thomas Weber,
Herausgeber von Biorama und Buchautor.
Stadtluft macht frei. Der Spruch hallt aus einer fernen Zeit in die Gegenwart herüber. Im Spätmittelalter konnten Leibeigene ihrer Grundherrschaft entkommen, wenn diese sie „Jahr und Tag“ nicht aufzufinden vermochte. Die Unübersichtlichkeit der Stadt ermöglichte ein Untertauchen. Heute beschreibt die Redensart ein von Zwängen befreites Stadtleben. Naiv vielleicht, aber auch derart gebraucht wirkte sie stets seltsam antiquiert auf mich. Was, dachte ich mir, würde nicht längst auch im Dorf toleriert?
Bis mich K anschrieb, ein alter Bekannter. Er wäre „außergewöhnlich stadtmüde geworden“, schrieb K, und er überlege, in der Mitte des Lebens seinen Lebensmittelpunkt zurück aufs Land zu verlegen. Er suche Möglichkeiten, bei offenen Menschen in der Landwirtschaft mit zu arbeiten. Sein Leben als Kurator eines Kulturfestivals wäre ohnehin das eines Saisonarbeiters. Das lasse sich kombinieren.
Was K zögern lässt? „Immer noch nagen in mir sachte Ängste, die sich aus meinen negativen Erfahrungen mit dem Landleben meiner Jugend speisen, als ich aufgrund meiner Homosexualität dort nicht immer eine einfache Zeit hatte.“ Konkreter wird K nicht. Wer weiß, dass heranwachsende Lesben und Schwule ein siebenmal höheres Suizidrisiko haben als Gleichaltrige, kann sich Details ausmalen.
„Ein schwuler Mann kann Landwirt sein“, sagte der geoutete Abgeordnete Nico Marchetti am Weltbauerntag. Na no na ned, denkt man vorschnell. Doch es ist bedeutungsvoll, selbstverständlich Gewordenes nicht im Nebel des Unausgesprochenen zu belassen.
Und erst wenn am Traktor stolz eine Regenbogenfahne wehen kann, wird auch Landluft frei machen.
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- Weber Thomas: Michael Mickl