Je kleiner die Zuhörer sind, desto mehr lieben sie die Atmosphäre des Vorlesens an sich. Unter einer Decke an Mama, Papa oder Oma gekuschelt auf eine märchenhafte Reise gehen – diese frühkindlichen Erlebnisse stärken das Urvertrauen und bleiben oft ein Leben lang in Erinnerung.
Kindliche Welt
Märchen sind Geschichten voller Symbole. Kinder finden sich von Anfang an erstaunlich gut zurecht in der Märchenwelt, in der alles möglich scheint, die beseelt und voller Wunder ist. Für sie ist es nicht verwunderlich, dass Wölfe sprechen oder dass sich kleine Jungen in Rehe verwandeln. Märchen sind Magie, und ihre wunderbaren Ereignisse entsprechen genau der kindlichen Phantasie. Kinder sind nämlich ganz in einer magischen Weltsicht verhaftet. Da sie noch keinen Zugang zur naturwissenschaftlichen Weltsicht haben, können sie sich technische oder physikalische Abläufe und auch Naturereignisse nur durch geheimnisvolle, eben magische Kräfte erklären. Märchen bedienen sich dieser Magie, weshalb sie für Kinder so interessant sind.
Geschichten zu grausam?
Das ausgeprägte Schwarz-Weiß-Denken, die Unterteilung in gut und böse im Märchen ist für Kinder sehr wichtig. Sie brauchen klare Verhältnisse, um sich zu orientieren und zu unterscheiden, was gut und was schlecht ist. Die Welt besteht zwar aus verschiedenen Möglichkeiten auf der Skala zwischen gut und böse, aber Kinder können das erst später erkennen.
Die kleinen Zuhörer mögen die deutlichen Bilder. Die Hexe und der böse Wolf sind Symbole für das bedrohliche Böse und es tut den Kindern gut, wenn sie am Ende besiegt werden. In ihren Augen ist das nicht grausam, sondern gerecht. Dadurch erhalten Kinder die Gewissheit, dass auch schlimme und bedrohliche Situationen überwunden werden können. Die Geschichten machen Kindern Mut und spenden Trost.
Was Märchen leisten
Im Grunde “übersetzen” Märchen menschliche Lebenssituationen in Symbole und Bilder. Kinder verstehen die Bedeutung und Botschaft der Märchen ganz intuitiv. Die Geschichten bieten Helden, mit denen sich Kinder identifizieren können. Egal, ob männlich oder weiblich, Kinder können sich auch gut mit Helden des anderen Geschlechts identifizieren. Auch Lösungsmöglichkeiten für Konfliktsituationen und problematische Entwicklungsschritte werden aufgezeigt.
Märchen regen die Phantasie an. Gerade in unserer gefühlsarmen und phantasielosen, hochtechnisierten Umgebung ist das von Bedeutung. Vorgelesene oder nacherzählte Märchen lassen in der kindlichen Phantasie Bilder entstehen. Dies ist ein immenser Vorteil gegenüber der Reizüberflutung durch vorgefertigte Fernsehbilder, die keinerlei Platz für Phantasie lassen. Zudem vermitteln Märchen gewisse Vorstellungen von Normen und Werten, die nie an Gültigkeit verlieren.