„Kudlich war ein junger Radikaler“

Vor 175 Jahren, am 7. September 1848, trat im damaligen Habsburger-Kaiserreich das Grundentlastungspaket in Kraft. Es beruhte auf einem Antrag des „Bauernbefreiers“ Hans Kudlich im Reichstag, der die Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit von ihren meist adeligen Grundherren gefordert hatte. Darüber und über Hans Kudlich ein Gespräch mit Hans Mayrhofer.

Hans Kudlich (1823-1917) war Arzt und Politiker. Als „Befreier“ der Bauern ging er in die Geschichte ein.

BauernZeitung: Was von Hans Kudlichs Antrag ist bis heute für die Bäuerinnen und Bauern in Österreich noch von Bedeutung? 

Mayrhofer: Kudlichs beherzte Initiative schützte die Bauern vor der Willkür und Gerichtsherrschaft der Grundherren. Zwar war die Leibeigenschaft schon 1781 aufgehoben worden, die Bauernfamilien waren aber immer noch verpflichtet, für die Grundherren zu arbeiten und auch einen Teil ihrer Ernte abzuliefern. Mit Rechtsstaatlichkeit und Schutz der eigenen Rechte in unserem heutigen Verständnis hat das nichts zu tun. Oft vergessen und unterschätzt wird auch, dass im Revolutionsjahr 1848 auch andere wichtige Freiheitsrechte wie das weitgehend allgemeine Wahlrecht – wenn auch noch nicht für Frauen – durchgesetzt wurde. Es handelte sich aber nur um ein kurzes Aufflackern der Freiheit. Im darauffolgenden März war es damit schon wieder vorbei. Das Grundentlastungspaket ist geblieben. Mit diesem wurde die größte Eigentumsverschiebung in der österreichischen Geschichte eingeleitet. 

Quelle: ÖSFO
DI Hans Mayrhofer ist Bauer in der Buckligen Welt und Geschäftsführer des Ökosozialen Forum Österreich & Europa (ÖSFO). Dieses verleiht seit 55 Jahren alle zwei Jahre den Hans-Kudlich-Preis zum Gedenken an dessen historischen Antrag im Jahr 1848.

Was bedeutete das konkret?

Eigentum und Freiheit bedeuten immer auch Verantwortung und sind, wenn richtig verstanden, zudem eine Verpflichtung. Die Komponente der Verantwortung geht mir immer öfter ab. Auch im politischen Diskurs. Es geht dabei nicht um die Verantwortung für einen selbst oder die eigene Gruppe, sondern die Verantwortung für das Ganze. Mit der Durchsetzung von Einzelinteressen und der Weigerung, auf Argumente von Andersdenkenden einzugehen, sind wir genau dort, wohin wir nicht wollen. Die Bauern hätten ihre Rechte auch nicht bekommen, wenn jeder nur ausschließlich für sich selbst eingestanden wäre.

Wie kann die Landwirtschaft diese politische Verantwortung für das Ganze heute wahrnehmen? Wie sollen Bauern heute ihre Rechte einfordern?

In Österreich sind nur noch gut vier Prozent der Erwerbstätigen Bauern. Ohne Allianzen und das Zugehen auf andere bekommen wir keine Mehrheiten mehr. Gleichzeitig ernähren diese vier Prozent alle Menschen im Land, stellen Holz und andere Rohstoffe bereit. Sie kümmern sich um die Umwelt und die Kulturlandschaft. Da sollten vielfältige Allianzen mit der gesamten Gesellschaft gewiss möglich sein. Auch sind die Bauern ein sehr angesehener Berufsstand. Sie wissen, was sie tun und wovon sie reden und teilen wichtige Anliegen der Gesellschaft. Derzeit sehe ich aber beiderseits mehr ein Gegen- als ein Miteinander. 

Inwiefern?

Als Bauern müssen wir den ehrlichen Austausch suchen, auf andere zugehen und uns auch deren Ansichten anhören. Darüber zu jammern, dass uns andere dreinreden wollen, wie wir zu wirtschaften hätten, bringt uns nicht weiter. Wenn es jemanden interessiert, wie wir arbeiten, dann sollten wir mit ihnen darüber reden. Dann hört man uns auch zu. Nehmen wir etwa die Sorgen vieler betreffend die Folgen der Klimakrise. Die teilen wir ja auch. Schließlich sitzen wir alle im selben Boot und die Landwirtschaft ist meist zuvorderst und am stärksten betroffen.

Hans Kudlich sorgte für die rechtliche Gleichstellung der Bauern.
Viele Landwirte haben indes heute das Gefühl, dass mit ihnen nicht mehr auf Augenhöhe diskutiert wird. Sehen Sie das auch so?

Im Grunde ja. Aber um langfristig weiterzukommen, braucht es auch Nachsehen. Manchmal ist es klüger die eigene Meinung – wenn auch wissenschaftlich belegbar – vorübergehend hintanzustellen und den Diskurs auf einer anderen Ebene zu führen. Was meine ich damit? Einem NGO-Vertreter von Anfang an seine Kompetenz abzusprechen mag manchmal fachlich richtig sein, aber führt letztlich meist zu nichts. Den ersten Schritt zu setzen und auf jemanden zuzugehen steht auch in einer christlich-sozialen Tradition und für politische Werte des Ausgleichs und ist in einer zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaft unabdingbar. 

Wie lautet deshalb Ihre Kritik?

Politik wurde noch nie so schnell – manchmal sogar reflexartig – und mit kurzen Schlagworten gemacht. Neue Medien mit hoher Reichweite und geringer Reflexionsfähigkeit bringen Politikerinnen und Politiker dazu zu glauben, im Stundentakt reagieren zu müssen. Schnell gilt es, sich zwischen Schwarz und Weiß zu entscheiden und sich auf eine Seite zu schlagen. Manche Volksvertreter, auch viele Medien, suchen nur noch nach der großen Schlagzeile und gieren nach dem Lob ihrer Anhänger, indem sie die Unkenntnis der Menschen ausnutzen. Wenn sich aber eine solche Schlagzeile als falsch herausstellt, macht man sich damit nicht nur selbst unglaubwürdig. Es schadet auch unserer Demokratie. Unsere Welt ist auch nicht schwarz oder weiß, sondern bunt. Entscheidungen müssen anhand von Fakten abgewogen werden. Nicht alles kann aus dem Bauch heraus oder mit dem viel zitierten Hausverstand entschieden werden. Das stärkt meist die Ränder, während die Mitte erodiert. Für mich ist das auch der Kern der jüngsten Debatten um die sogenannte „Normalität“. 

Aber braucht es nicht differente politische Ziele und Visionen, über die man auch mal trefflich streiten kann?

Ja sicher, aber bitte mit mehr Tiefgang. Etwa über die Frage, wie man eine Stabilisierung unseres Pensionssystems erreichen kann? Entweder arbeiten alle länger oder die Pensionen werden gekürzt. Oder mehr Menschen, auch Frauen, arbeiten und zahlen ein, wobei es zu klären gilt, ob die hohe Teilzeitquote bei Frauen dabei klug und nachhaltig ist. Oder zum Thema Migration, dass wir Zuzug brauchen, um unser Sozialsystem zu stabilisieren, Stichwort Pflege – oder auch für die Landwirtschaft, Stichwort Ernte-helfer. Da steht Österreich in Konkurrenz mit anderen Staaten, die für Arbeitsuchende attraktiver sind. Andererseits muss der Rechtsstaat natürlich illegale Migration stoppen. Es wird jedenfalls ein Drehen an mehreren Stellschrauben brauchen. Die Freiheit ist dabei ein zentrales Element, um in Würde zu altern und um das Vertrauen der jüngeren Generation in ihre Zukunft wiederzuerlangen, das Vertrauen in einen Staat, der ihnen später die gleichen Chancen gibt wie den heute Älteren. Alles andere, zuvor kritisierte, ist rein darauf ausgerichtet, politisches Kleingeld einzuheimsen.

Mayrhofer: „Wahrscheinlich würde Kudlich heute an einer Straße kleben und ich im Stau stehen.“

Für welche Art von Freiheit würde Kudlich heute kämpfen?

Für unteilbare Menschenrechte, europäische Werte und Solidarität. Die Revolution 1848 entstand nach einem Winter des Hungers in Europa. Klima- und Energiekrise, die Teuerung und der Krieg in der Ukraine haben heute eine andere Dimension. Sie alle können aber durchaus als Bedrohung für unsere Freiheit wahrgenommen werden. Hans Kudlich war 1848 ein junger radikaler Mensch. Wahrscheinlich würde er heute an einer Straße kleben und ich im Stau stehen.

Quelle: Lithografie nach Richter/ÖNB Wien
      Der Reichstag in der Winterreitschule.

Hintergrund

Im Sommer 1848 trat der „Constituierende Reichstag“, das erste frei gewählte Parlament Österreichs, in der Winterreitschule der Wiener Hofburg zusammen. Auf der Tagesordnung stand eines der dringlichsten politischen Probleme des Habsburgerreiches: die bäuerliche Untertänigkeit. In der 3. Sitzung, Ende Juli, bat der junge Abgeordnete Hans Kudlich aus dem schlesischen Lobenstein seine 382 Abgeordnetenkollegen um Unterstützung für folgenden Antrag: „Von nun an ist das Untertänigkeitsverhältnis samt allen daraus entsprungenen Rechten und Pflichten aufgehoben; vorbehaltlich der Bestimmungen, ob und wie eine Entschädigung zu leisten sei.“ Nach mehrwöchigen heißen Debatten kam es Anfang September zum Beschluss, das Parlament befreite die Bauern – und damit die Mehrheit der Bevölkerung –, machte aus „Untertanen“ Staatsbürger, schuf die Voraussetzungen für künftige Landgemeinden und staatliche Bezirksgerichte.

Zwar hatte der damalige Kaiser Ferdinand den Beschlüssen des Reichstages seine Sanktion erteilt und die Kundmachung des Gesetzes in allen Kronländern verfügt, aber schon im Oktober flüchtete er nach einem Aufstand in Wien nach Mähren und dankte alsbald ab. Sein junger Nachfolger, Kaiser Franz Joseph, führte die „Grundentlastung“ später „relativ bauernfreundlich“ durch, so der Sozialhistoriker Ernst Bruckmüller. Die Bauern als einstige „Untertanen“ des Adels entwickelten sich definitiv zu modernen Staatsbürgern.

Hans Kudlich dagegen floh nach dem Scheitern des Wiener Oktoberaufstandes über Deutschland und die Schweiz nach Amerika. Der in Österreich in Abwesenheit zum Tod verurteilte Revolutionär starb 1917 in Hoboken bei New York.

Hans-Kudlich-Preis
Seit 1968 erhielten diesen Preis 160 Personen für besondere Leistungen, die das Verständnis der Allgemeinheit für die Land- und Forstwirtschaft vertiefen, oder die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Land- und Forstwirtschaft verbessern. Kudlich-Preisträger bisher waren u. a. Josef Willi (1974), Adolf Kastner (1988), Hans Haid (1991), Peter Ruckenbauer (2005), Agnes Schierhuber (2014) sowie Andrea Schwarzmann, Franz Ledermüller und Rudolf Schwarzböck (alle 2022).

- Bildquellen -

  • Mayrhofer: ÖSFO
  • Reichstag Lithografie Nach Richter ÖNB Wien: Lithografie nach Richter/ÖNB Wien
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AUTORBernhard Weber
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