Wenn man eines Tages auf die Periode der Großen Koalition ab 2007 historische Rückschau halten wird, dann wird als größter sozialpolitischer Erfolg die Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung hervorstechen. Vorausgesetzt, die Koalitionspartner machen diese Errungenschaft nicht noch mutwillig kaputt. Die Gefahr besteht, wenn man sich den Streit der letzten Tage ansieht. Da ist einerseits die SPÖ, die in sozialromantischer Verklärung keinerlei Änderung an der bestehenden Regelung zulassen will. Das ist kontraproduktiv, weil nicht mehrheitsfähig: Es ist offensichtlich, dass es derzeit Missbrauch in beachtlichem Umfang gibt. Stellt man diesen Missbrauch nicht ab, so wird sich in der Bevölkerung die Meinung verfestigen, dass die Mindestsicherung bloß eine soziale Hängematte darstelle – und dass jeder, der einer ehrlichen Arbeit nachgeht, eigentlich der Dumme wäre. Die ÖVP will dieser überspitzten Sichtweise die Basis entziehen. Deshalb ringt sie um Kürzungen – mit dem Hinweis, dass viele Bezieher der Mindestsicherung diese nicht oder nicht in der derzeitigen Höhe benötigen. Dabei hat sie das Argument auf ihrer Seite, dass der Abstand zwischen Mindestsicherung und Erwerbseinkommen aus einfachen Tätigkeiten tatsächlich nicht zum Arbeiten anregt. Wahr ist aber auch, dass Kürzungen in manchen Fällen unsozial wären – und dass ein Teil der Lösung in höheren Arbeitslöhnen läge. Notwendig ist, dass sich beide Partner annähern. Weil sonst in der nächsten Legislaturperiode das ganze System gekippt werden könnte.
Gratwanderung Mindestsicherung
Gastkommentar von Conrad Seidl, Redakteur "Der Standard"
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