Zunehmend verdichtet sich der Verdacht, dass Russland Getreide aus den besetzten Gebieten der Ukraine ausführt. So erkennt etwa der Vizechef des ukrainischen Agrarrates, Denys Martschuk, ein System darin und bezeichnet die Aktionen als „eine gut geplante Operation der Besatzer“. Längst werde Getreide aus den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine auf die Krim gebracht und über den Hafen Sewastopol in den Nahen Osten verschifft.
Zahlreiche Medien berichteten bereits von Lkw-Konvois, die Getreide von Agrarbetrieben und Silos aus den russisch besetzten Gebieten auf die Krim gebracht haben sollen. Auch in den sozialen Medien tauchen immer wieder Videos vollbeladener Getreidelastwägen auf.
Getreiderat und Brüssel üben Kritik
Nach Angaben der britischen Landwirtschaftsministerin Victoria Prentis waren die russischen Aktivitäten auch Thema auf einer Konferenz des Internationalen Getreiderats (IGC) in London. Sie habe die Vorwürfe des Getreidediebstahls durch Russland aus erster Hand erfahren und forderten gegenüber Reuters sofortige Aufklärung. Auch der Europäische Rat verurteilt die „rechtswidrige Aneignung der landwirtschaftlichen Erzeugung in der Ukraine durch Russland“ auf das Schärfste. Die Staats- und Regierungschefs beklagten die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine „auf die weltweite Ernährungssicherheit und die Erschwinglichkeit von Lebensmitteln“. Die Regierung in Moskau wird aufgefordert, ihre Angriffe auf die Verkehrsinfrastruktur in der Ukraine zu beenden, die Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen aufzuheben und die Ausfuhr von Lebensmitteln zuzulassen.
AU fürchtet massive Hungerkrise
Gerade Vertreter der Afrikanischen Union (AU) betrachten die Blockade ukrainischer Weizenlieferungen über die Schwarzmeerhäfen durch Russland mit großer Sorge. Wie der amtierende AU-Vorsitzende und Präsident des Senegals, Macky Sall, erklärte, hat sein Kontinent bereits mit mehr als 280 Millionen unterernährten Menschen zu kämpfen. Neben der Seehafenblockade durch Moskau seien die explodierenden Preise für Düngemittel ein weiteres ernstes Problem. Diese hätten sich in den Ländern der AU im Vergleich zum Vorjahr verdreifacht. Sall äußerte die Befürchtung, dass die Getreideerträge in Afrika auch aufgrund ausbleibender Düngemittellieferungen in diesem Jahr um bis zu 50 Prozent einbrechen könnten. Zusätzlich erschwert wird die Situation durch eine verheerende Dürre mit 17 Millionen Betroffenen am Horn von Afrika. Angesichts von Notlagen wie dieser würden viele afrikanische Länder wohl nicht zögern, von Russland geliefertes Getreide zu kaufen, ganz gleich, welcher Herkunft.
Der Vize-Agrarminister der Ukraine, Taras Wyssozki, meint unterdessen, man könne Afrikas Nahrungsmittelproblem „durch eine Beendigung der Kämpfe, aber nicht durch geplündertes Getreide lösen“. Russland hätte in den besetzten Teilen der ukrainischen Regionen Saporischschja, Cherson, Donezk und Luhansk bereits einen Großteil der Getreidespeicher leergeräumt. Wyssozki: „Es gibt dort nichts mehr zu stehlen.“