Ein anderer Blick auf einen Sündenbock

Engelbert Dollfuß (1882-1934), Bundeskanzler der Ersten Republik in einer Zeit des anlaufenden nationalsozialistischen Terrors, gilt als umstrittenster Politiker Österreichs: JOHANNES KAMMERSTÄTTER hat ein neues, sehr umfassendes Buch über ihn geschrieben.

Johannes Kammerstätter hat über viele Jahre hinweg zu Engelbert Dollfuß und seine Zeit recherchiert.

Sie haben ein neues Buch über Engelbert Dollfuss, Landwirtschaftsminister und Bundeskanzler in der Ersten Republik, veröffentlicht? Warum gerade jetzt?

KAMMERSTÄTTER: Dieses Dollfuß-Buch war für mich ein Langzeitprojekt. Es gerade heuer zum 90. Jahrestag des Kanzlermordes herauszubringen, steht im Zusammenhang mit der Schließung des Dollfuß-Museums in Texing.

Dollfuß war eines der ersten politischen Opfer Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten. Seine Person ist bis heute umstritten. Ihm wird vorgeworfen, ab 1933 sukzessive die Demokratie ausgeschaltet zu haben. Der Ständestaat versuchte ab 1933/1934, einen Führerkult um Dollfuß aufzubauen, ähnlich wie im faschistischen Italien unter Benito Mussolini.

Wie sehen Sie nach den akribischen Recherchen den Ständestaat-Kanzler?

Meine These lautet: Bundeskanzler Dollfuß ist gerade deswegen der umstrittenste österreichische Politiker im 20. Jahrhundert, weil seine Staatsidee für Österreich und sein Konfliktlösungsmodell für Interessenkonflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern noch immer erfolgreich funktionieren. Gleichzeitig ist es verpönt, seinen Namen damit in Verbindung zu bringen. Tagespolitisch war Dollfuß mit der aggressiven nationalsozialistischen Bewegung, mit ihrer Propaganda und vor allem mit ihrem Bombenterror konfrontiert. Das war der politische Hauptkonflikt, nicht die Konkurrenz von Regierung und sozialdemokratischer Opposition. Ob und wie viel Demokratie vor 1933 in Österreich bestanden hat, wurde damals und wird heute sehr skeptisch eingeschätzt; ob also die politische Macht tatsächlich vom Volk ausging oder nicht doch praktisch von den Parteien.

Kammerstätter: „Dollfuß ist umstritten, weil seine Staatsidee für Österreich und sein
Konfliktlösungsmodell für Interessenkonflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern noch immer erfolgreich funktionieren.“

 

Sie sind weniger Politik- als Sozialhistoriker und haben mehrere Bücher über die verschwundene jüdische Kultur im Land veröffentlicht. Was beleuchten Sie in Ihrem Buch, das bisher weniger oder vielleicht gar nicht bekannt war?

Mich interessieren zwei Fragen, die in der sogenannten „Meistererzählung“ über Dollfuß und den Ständestaat noch nicht in Betracht gezogen werden: die Absicht der nationalsozialistischen Täter und die entsprechenden Reaktionen der jüdischen Österreicher. Denn dass es auf diesen mörderischen Konflikt hinauslaufen würde, war für die Kenner der politischen Lage unschwer zu erkennen. Die NS-Strategen konnte nur ein einziger Gegner aufhalten: ein katholischer Staat auf berufsständischer Grundlage. Genau das war ja die Staatsidee von Dollfuß. Aus jüdischer Sicht, welche die NS-Absichten ernst nahm, war daher Österreich ihr Bollwerk gegen die drohende NS-Aggression; nicht nur ihr Bollwerk in Österreich, es galt für das gesamteuropäische Judentum. Österreich war für alle Zionisten sogar Platzhalter für den noch nicht bestehenden jüdischen Staat. Eine für viele überraschende Erkenntnis, die auf den bisherigen Streit um Dollfuß ein völlig neues Licht wirft.

Der Buchtitel „Der Staat, den schließlich alle wollten“ ist provokant gewählt. Woran machen Sie diese Aussage konkret fest?

Das ist nicht schwer. Erst als im Zuge der geplanten Volksabstimmung für Österreich die gesamte Vertretung der illegalen Arbeiterschaft ihre Mitglieder aufforderte, für den Bestand Österreichs zu stimmen, kam die NS-Okkupation Österreichs diesem Bekenntnis zum „Staat, den schließlich alle wollten“ zuvor.

Dollfuß hat als Kanzler das Parlament ausgeschaltet, die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei – auch die KPÖ und die NSDAP – verboten und im Februar 1934 auf Arbeiter schießen lassen. Wie beurteilen Sie diese Zeitspanne?

Das erfordert plausible Begründungen auf mehreren Ebenen. Dollfuß stand bei seinen Gegnern im Ruf, jedes kleinste Machtvakuum im Vorhinein zu erspüren. Dennoch lieferten sie ihm am 4. März 1933, am Vorabend der Wahl in Deutschland mit dem erwarteten Sieg der NSDAP, mit der Auflösung des Parlaments das maximale politische Vakuum. Und mussten sich nach wenigen Wochen eingestehen, dass sie – vor allem die Sozialdemokraten – ihm das politische Feld kampflos überlassen hatten. Der große Stratege der Sozialdemokratie, Otto Bauer, nannte das selbstkritisch eine „rechte Abweichung“ von der marxistischen Theorie: Zu wenig und zu späte Gewalt. Im Februar 1934 war es umgekehrt. Im Februar 1934, nach dem Scheitern der Gewaltereignisse, mussten sich die Sozialdemokraten erneut geschlagen geben.
Für Bauer eine „linke Abweichung“: Zu rasche und zu viel Gewalt.

Warum zog Dollfuß so viel Hass auf sich?

Er wurde zum Sündenbock für das Scheitern der Weltrevolution in Österreich.
Seine Idee eines katholischen Staates – mit der bereits von anderen ausgearbeiteten, berufsständischen Ordnung – war der Idee der Weltrevolution und auch der Ideologie des Großdeutschen Reiches aktuell überlegen. Was übrigens in der politischen „Meistererzählung“ als Aushöhlung der Demokratie und schließlich als Verfassungsbruch läuft, hört sich in der internationalen Diskussion über die Funktion von Verfassungen völlig anders an. Dort gilt nämlich seine (neue) Staatsidee als verfassungsbegründend. Das kann natürlich niemand so sehen, der von vornherein auf eine allgemeine Faschismustheorie ausgerichtet ist und daher den Ständestaat prinzipiell als Vorstufe zum Vollfaschismus versteht.

All das ist ohne Fachdiskussion schwer zu vermitteln.

Stimmt. Das ist aber bei den soziologischen Auswirkungen des Ständestaates auf das Konfliktlösungsmodell der Sozialpartnerschaft ganz anders. Entsprechend dem Dollfuß-Modell eines auch politisch geordneten Marktes durfte es auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite nur einen einzigen arrondierten Modellverband geben: eine Bundeswirtschaftskammer – sie hieß damals anders – und einen Einheitsgewerkschaftsbund. Und nicht mehr konkurrierende Wirtschafts-
beziehungsweise Gewerkschaftsverbände. Dollfuß hatte dieses sozialpartnerschaftliche Modell bereits in der für Bauern und Landarbeiter gemeinsamen Sozialversicherung vorbereitet und in den auf die Kammern übertragenen Kontrollmechanismen seiner Marktordung weiter ausgebaut. Das Ständestaatsmodell der arrondierten Interessenverbände haben die politischen Gegner von einst nach 1945 beibehalten und später bis zur Paritätischen Kommission mit ihren Experten-stäben institutionalisiert.

Quelle: Wikimedia Commons Französische Nationalbibliothek
Engelbert Dollfuß (li.) galt als Experte für die Ordnung von Märkten, um mehr Wohlstand zu schaffen.

Sie sagen, man müsse sich „von standardisierten Argumenten“ gegen Dollfuss lösen. Was meinen Sie damit?

Wer die Theorie über den Ständestaat auf 1933 bis 1938 begrenzt, behauptet ja, dass dieses dann sogenannte „politische Experiment“ zu Ende und daher gescheitert sei. Das alles außer Acht zu lassen, ist wissenschaftlich gesehen zumindest fahrlässig. Es geht auch um die Erforschung eines politischen Projektes, das bis in die Gegenwart wirkt. Es hängt aber sehr eng mit der Identität Österreichs zusammen: Vorurteile sitzen und werden sogar in Museen bespielt.

Warum war Dollfuß speziell für die Landwirtschaft ein wichtiger Politiker?

Er galt schon vor seinem Regierungseintritt als Landwirtschaftsminister europaweit als Top-Experte für die Ordnung von Märkten, sowohl für ausgedünnte wie auch für überfüllte Märkte. Sein Credo war in wirtschaftlicher und auch in politischer Hinsicht die staatliche Ordnung der Marktzugänge. Märkte hatten für ihn die Funktion, Einkommen zu erzielen und zu verbessern sowie dem Wohlstand und dem Gemeinwohl zu dienen. Er hatte daher überhaupt kein Verständnis für ruinösen Kapitalismus und ebenso wenig für den Klassenkampf.

Wo sehen Sie die Person/den Politiker Dollfuß dennoch kritisch?

Schade finde ich, dass im gemeinsamen Kampf von Ständestaat und Katholischer Kirche die bisher gelebte innerkirchliche Demokratie dem Führerprinzip weichen musste. Dass sie nach 1945 nicht wiedererrichtet wurde, haben die Bischöfe zu verantworten.

Rechnen Sie damit, dass Dollfuß von seinen Kritikern nach der Lektüre Ihres Buches in einem neuen Licht gesehen wird?

Wissenschaftlichen Ansprüchen entspricht es, bisherige Standardansichten zu historischen Personen und ihren Projekten infrage zu stellen. Wissenschaft lebt vom Diskurs, den parteinahe Experten nicht verwässern sollten.

Kammerstätter: „Wissenschaftlichen Ansprüchen entspricht es, bisherige Standardansichten zu historischen Personen und ihren Projekten infrage zu stellen.“

 

Das Dollfuß-Museum in seinem Geburtshaus in Texing wurde vor Kurzem geräumt. Das Haus wird dem Vernehmen nach abgerissen. Wie sehen Sie den Umgang mit dem Erbe von Dollfuss?

Einer gepflegten Erinnerungskultur auf europäischem Niveau entspricht es nicht, die Erinnerung an einen umstrittenen Politiker einerseits generell auszulöschen und andererseits nur zu zwei Terminen im Jahr, am 12. Februar und am 25. Juli, die Erinnerung zu beschwören, um den zu Erinnernden einer vernichtenden Verhöhnung auszusetzen.

Zur Person:
Dr. Johannes Kammerstätter, Autor und Historiker, war bis zu seiner Pensionierung Lehrer an der HLBLA Francisco Josephinum Wieselburg.

Buchtipp:
„Der Staat, den schließlich alle wollten“, Verlagsedition „Tragbares Vaterland“, 480 Seiten, 49 Euro; Bestellungen: bauxberg2@gmx.at; www.tragbaresvaterland.at

- Bildquellen -

  • Dollfuss Foto Wikimedia Commons Französische Nationalbibliothek: Wikimedia Commons Französische Nationalbibliothek
  • Kammerstätter: Weber
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AUTORBernhard Weber
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