Von 1977 bis 1995 stand Josef Ratzenböck als Landeshauptmann an der Spitze Oberösterreichs, danach führte er bis 2017 den Seniorenbund. Ratzenböck stammt aus Neukirchen am Walde und lebt in Linz, gemeinsam mit seiner Gattin Anneliese, mit der er seit Dezember 1954 verheiratet ist.
Wie geht es Ihnen?
RATZENBÖCK: Eigentlich sehr gut. Ich lebe im „Vier-Sterne-Hotel Anneliese“ in exzellenter Betreuung. Nur das Gehwerk tut nicht mehr mit.
Was bedeutet der 95er für Sie?
Es ist ein unglaublich hohes Alter für einen Angehörigen der Familie Ratzenböck. Mein Vater wurde 76, mein Großvater und mein Urgroßvater auch. Mit 76 habe ich mich mit dem Tod vertraut gemacht. Ich habe geglaubt, dass auch ich mit 76 Jahren Abschied nehmen muss.
Verfolgen Sie die aktuellen politischen Entwicklungen in Österreich und Europa noch?
Natürlich. Wenn man ein Leben lang Politik betrieben hat, kann man gar nicht anders. Im Übrigen sollten sich eigentlich alle Bürger interessieren! Es geht ja um ihre Zukunft und die Zukunft unserer Gesellschaft.
War Politiker eigentlich Ihr Traumberuf?
Nein. Mein Traumberuf wäre Bauer gewesen! Diesen Beruf habe ich während des Studiums am Hof meiner Eltern ausgeübt, aber es ist für mich anders gekommen, als ich dachte. Aber ich bin immer Bauer geblieben, meine bäuerliche Leidenschaft befriedigte ich im Garten, als es mir noch möglich war. Ich pflanzte, säte und erntete, wobei mich das Pflanzen und Säen immer mehr begeistert hat als das Ernten.
Was waren die Höhepunkte – die bewegendsten Momente, vielleicht auch die größten Erfolge in Ihrer Zeit als Landeshauptmann?
Da gibt es einige. An erster Stelle steht sicher das Durchschneiden des Stacheldrahts nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Die Freude über das Aufgeben dieser schmerzlichen Grenze war riesengroß. Zweitens, für mich als überzeugten Europäer, der Beitritt zur Europäischen Union und damit die Sicherung einer friedlichen, europäischen Zukunft. Höhepunkte waren auch die Ansiedlung des BMW-Werkes, nach starken Geburtswehen der Bau der Pyhrnautobahn und die Eröffnung des Nationalparks Kalkalpen. Und das Aufblühen des Kulturlebens in Oberösterreich, da denke ich etwa an die Landesausstellungen und besonders an das Landesmusikschulwerk. Für mich war es immer auch ein großer Erfolg, wenn ich Menschen, die sich in ihrer Not bei den Sprechtagen an mich gewandt haben, helfen konnte.
Sie kennen den Ersten Weltkrieg aus den Tatsachenberichten Ihrer Eltern, haben den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt, aber auch den EU-Beitritt und den Fall des Eisernen Vorhangs.
Heuer im Sommer werden es 110 Jahre, dass der Erste Weltkrieg begonnen hat. Er war schrecklich und abscheulich! So schrecklich das Attentat in Sarajewo gewesen ist, aber den ersten Weltkrieg hat das nicht gerechtfertigt. Millionen sind nicht zurückgekommen. Es war die Zeit meiner Eltern und Verwandten. Onkel Martin, der in Galizien im Einsatz war, wurde schwer verletzt und war ein Leben lang entstellt. Mein Vater war achteinhalb Jahre Soldat und 13 Monate in Kriegsgefangenschaft.
Eindeutig ein Versagen des politischen Systems?
Jeder Krieg ist ein Versagen des politischen Systems, ohne Ausnahme! Das gilt auch für den Zweiten Weltkrieg, der noch schrecklicher gewesen ist. Ich musste als Fünfzehneinhalbjähriger einrücken. Aus meiner Schulklasse, der 6. Klasse des akademischen Gymnasiums, sind noch sechs Mitschüler gefallen. In Neukirchen haben einige Familien drei oder vier Söhne verloren. Die EU ist daher die beste Idee, die man je in Europa haben konnte. Die Politik hat nichts Wichtigeres zu tun, als dafür zur sorgen, dass die Menschen in Frieden leben können – das ist das Entscheidende.
Ist der Krieg in Europa überwunden?.
In Europa nicht, das sehen wir beim brutalen Angriffskrieg des Herrn Putin auf die Ukraine. Aber in der EU hoffe ich, schon. Ich kann nur an alle appellieren, das Friedensmodell Europa zu stärken, weiter auszubauen, bei allen Schwächen, die die EU hat, es gibt keine vernünftige Alternative!
Im Mai wählen wir das Europaparlament neu. Viele sagen, eine Stärkung der Ränder der nationalistischen Bewegungen voraus. Wie sehen Sie die europäische Entwicklung?
Wir haben in Europa aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen eine starke Kommission. Europa braucht diese politische Mitte ganz dringend. Radikale Bewegungen haben noch nie Probleme gelöst, sondern immer nur welche geschaffen. Ganz wichtig ist auch, dass die nationalen Regierungen über den Schrebergarten des eigenen Landes hinausdenken. Auf Europa schimpfen ist leicht, es zusammenzuhalten sehr schwierig, aber sehr notwendig!
- Bildquellen -
- Ratzenböck: Foto: antonio bayer