Vorweg: Deutschland vor 100 Jahren, oder wie der Historiker und viel gelesene Publizist Volker Ullrich schreibt: „Das Jahr am Abgrund“. Der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen im Jänner folgte die Hyperinflation – kostete am 9. Juni in Berlin ein Kilo Kartoffel „nur“ 5000 Mark, so stieg dieser Preis bis zum 2. Dezember auf 90 Milliarden Mark – und schließlich der Putschversuch Adolf Hitlers. Schon im Jahr zuvor hat die Ermordung des liberalen Außenministers Walther Rathenau die junge „Weimarer Republik“ aufs Schwerste erschüttert.
Nur damit hier kein Missverständnis aufkommt, das alles steht heute nicht vor der sprichwörtlichen Tür, zumindest hierzulande. Und dennoch lohnt sich dieser Blick ein ganzes Jahrhundert zurück: ein durch und durch vergiftetes politisches Klima, übrigens auch zeitgleich in Österreichs Erster Republik, in dem die erstarkenden politischen Ränder nicht mehr den Diskurs mit den anderen Parteien, sondern nur mehr deren Denunziation im Sinn hatten. Nicht mehr dem Dienst an der Gesellschaft, sondern der Macht über die Allgemeinheit galt das vorrangige politische Interesse.
Wahlerfolge um welchen Preis?
Natürlich darf an dieser Stelle die ständige systemische Herausforderung nicht übersehen werden, die selbst in mustergültigen Demokratien das politische Handeln bestimmt: Um politische Ziele realisieren zu können, braucht es Mehrheiten. Es ist daher höchst legitim, im politischen Wettbewerb Wahlerfolgen höchste Priorität einzuräumen. Abes es bleibt dennoch immer die Frage, um welchen Preis? Was Politikerinnen und Politikern in kleineren Gemeinden völlig bewusst ist, dass jeder Erfolg umso größer wird, je breiter die gemeinsame Basis des Miteinanders ist, das verliert sich immer mehr, je weiter es „nach oben“ geht.
Die direkte und unmittelbare Folge ist die zunehmende Polarisierung zwischen den Parteien. Die weitaus problematischere Auswirkung ist allerdings die Abkehr vieler Menschen von der Politik insgesamt. Damit wird es für die Parteien natürlich auch zunehmend schwieriger, kompetentes Personal zu finden. Zugespitzt formuliert: Wer will sich das schon antun? Oder andersrum gedacht: Wer immer sich bereit erklärt, politische Verantwortung zu übernehmen, ist oft schneller „unten durch“, als es zuvor die schlimmsten Befürchtungen vermuten hätten lassen.
Klartext zum Jahreswechsel
Was verbindet aktuell den deutschen und den österreichischen Bundeskanzler, den Sozialdemokraten Olaf Scholz und Karl Nehammer von der Volkspartei? Es gibt definitiv keinen Grund zur Schadenfreude, aber beide Kanzler erleben bei ihren persönlichen Zustimmungswerten und mehr noch bei der Akzeptanz der von ihnen angeführten Koalitionen weitaus größere Ablehnung als Zustimmung. Glaubt man den zuletzt veröffentlichten Umfragen, so liegen die drei Regierungsparteien in Deutschland gemeinsam so um die 33 Prozent und Schwarz-Grün hierzulande bei rund 30 Prozent. Während man Karl Nehammer zwar allgemein hohe persönliche Integrität nachsagt, ihn anderseits auch nach zweijähriger Kanzlerschaft nicht uneingeschränkt als Führungspersönlichkeit empfindet, verfestigt sich bei Olaf Scholz der Eindruck, dass er es einfach nicht kann. Dabei kann er fast noch von Glück sprechen, dass die deutsche Medienszene sich nur sehr halbherzig in den sogenannten Cum-EX-Skandal verbissen hat, bei dessen Aufarbeitung der Verdacht im Raum steht, dass Scholz noch als Hamburger Bürgermeister 50 Millionen Euro der Warburg Bank überlasse habe, die den Steuerzahlerinnen und -zahlern zugestanden wären.
Wohl noch schwerer wiegt der Umstand, dass Scholz und seine Koalition nicht nur politisch an der Bevölkerung vorbei regiert. Ihr aktuelles 60-Milliarden-Euro-Loch ist nicht zuletzt Folge eines schweren finanztechnischen Fehlers: Man hatte das Geld budgetintern in unerlaubter Weise verschieben wollen.
EU, Spanien und Portugal
Noch wenige Tage vor dem Jahreswechsel 2022/23 wurde die sozialdemokratische Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, die Griechin Eva Kaili, wegen Geldwäsche, Korruption und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung aus ihrem Amt entfernt. Ihre mutmaßlichen selbstbereichernden Geschäfte mit Katar – sie lobte wohl im Gegenzug die positive Entwicklung bei den Menschenrechten im autoritären Golfstaat – waren aufgeflogen wie auch ihre Komplizen bei den italienischen Sozialisten.
Ein demokratiepolitischer Skandal, der auch in seiner Einzigartigkeit verstört, war die Regierungsbildung in Spanien nach den Parlamentswahlen am 23. Juli dieses Jahres. Hier ist die politische Landschaft zwischen rechts und links traditionell besonders stark polarisiert. Das hat in den im 21. Jahrhundert auch dazu geführt, dass neben der bürgerlichen Volkspartei „Partido Popular“ und den Sozialdemokraten „Partido Socialista Obrero Español“ Parteien und Bündnisse am extrem rechten – „VOX“ – und nicht weniger extrem linken Rand – „Unidas Potemos“ und „Sumar“ – etabliert haben, was etwa der liberalen Mitte mit „Ciudadanos“ nicht gelungen ist.
Nach der Wahl gab es keine klaren Verhältnisse. Pedro Sánchez, regierender Ministerpräsident von den Sozialdemokraten, musste, um weiter an der Macht zu bleiben, mit kleinen regionalen Parteien koalieren. Er hatte zwar den ersten Platz an die Volkspartei verloren, aber Mehrheit ist Mehrheit, könnte man ohne genauer hinzuschauen meinen und zur Tagesordnung übergehen. Doch diese Mehrheit kam erst mit der Unterstützung katalonischer Separatisten unter der Führung von Carles Puigdemont zustanden. Dieser hatte sich bereits 2017 durch sein von der Zentralregierung nicht genehmigtes Unabhängigkeitsreferendum des schweren Verfassungsbruchs schuldig gemacht und anschließend nach Belgien abgesetzt. Gegen ihn wurde ein europäischer Haftbefehl erlassen.
Nun will Sánchez ihn und viele seiner Verbündeten amnestieren. Zudem hat er den beiden im Parlament vertretenen separatistischen katalonischen Parteien einen Schuldenerlass in der Höhe von 15 Milliarden Euro gewährt. Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten: Nie ist im liberal-demokratisch verfassten „Westen“ ein Regierungschef schmutziger an die Macht gekommen. Aber man kann es auch mit den Worten von Olaf Scholz ganz anders sehen: „Felicidades (Glückwunsch)! Gut, dass wir weiter Seite an Seite arbeiten können. Denn auf viele Herausforderungen in der Welt schauen wir aus einem sehr ähnlichen Blickwinkel.“
Zumindest der portugiesische Regierungschef António Costa, ebenfalls ein Sozialdemokrat, ist Anfang November wegen sich zunehmend verdichtender Korruptionsvorwürfe proaktiv zurückgetreten. Er wolle aber mit der Justiz kooperieren und zur Aufklärung beitragen. Gut so!
Alt und jung
Auch ein nur kurzer Blick über den Atlantik scheint die Befürchtung zu bestätigen, dass in der Politik ganz oben zunehmend Persönlichkeiten agieren, mit denen man lieber nichts zu tun hätte. Glücklich wer sich bei Wahlen nicht wie in den USA zwischen Narzissmus (Donald Trump) und beginnender Senilität (Joe Biden) oder wie in Brasilien zwischen rechtem (Jair Bolsonaro) oder linkem (Luiz Inácio Lula da Silva) Autoritarismus entscheiden muss beziehungsweise musste.
Wenn nun aber die „alten weißen Männer“, was viele Aktivisten und Aktivistinnen aus dem vornehmlich linken Lager ohnehin schon längst zu wissen glauben, nichts taugen, wie wäre es mit jungen unkonventionellen Frauen an der Spitze von Regierungen? Auch für dieses Hoffnungsmodell war 2023 kein gutes Jahr. In Finnland wurde die noch nicht vierzigjährige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Sanna Marin von der Bevölkerung abgewählt. Zu viele Schulden und zu viel Einwanderung waren dann doch auch den meist sehr entspannten Finninnen und Finnen zu viel.
In Neuseeland, sozusagen am anderen Ende der Welt, schied Marins Parteikollegin Jacinda Ardern freiwillig aus dem Amt der Ministerpräsidentin. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen am 14. Oktober stürzte ihre „New Zealand Labour Party“ dann ohnehin schwer ab.
Die Rückkehr von Kriegen
Ob die internationale Krise der „politischen Personals“ auch eine Ursache dafür sein mag, sei dahingestellt, aber 2023 wird in die Geschichte wohl auch als Kriegsjahr eingehen. Ob südlich der Sahara, im Jemen, in der Ukraine oder in Israel – Militärs, paramilitärische Privatarmeen oder terroristische Kampftruppen lassen für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Wir sollten daher die obligatorischen und ritualisierten Neujahrswünsche heuer sehr ernst meinen!
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- Zeitdiagnosen: Karl Brodschneider