Herr Jäger, im Frühling 2021 erschien Ihr dritter Band von „Vergessene Zeugen des Alpenraums“ mit dem Untertitel „Auf der Alm und im Gamsgebirge“. Einen Großteil des Buches widmen Sie den Sennerinnen. Warum?
JÄGER: In der Agrar- und Sozialgeschichte spielen die Sennerinnen eine wichtige Rolle. Vor der Einführung der Hartkäseproduktion waren auch im „Land im Gebirge“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfahrene Frauen als Allround-Arbeitskräfte für die Milchverarbeitung innerhalb der Almwirtschaft zuständig. Das arbeitsreiche Leben der Sennerinnen, die als eigene Sozialgruppe bis heute erhalten geblieben ist, stand während des 18. Jahrhunderts ganz im Zeichen der Kontrolle durch die geistliche Obrigkeit, wie die nachweisbaren Sennerinnen-Verbote zeigen. Dass die Arbeit auf den ostalpinen Almen für die Sennerinnen alles andere als gemütlich und lustig gewesen ist, geht auch aus der von mir zusammengestellten Unglückschronik hervor.
Was waren nun die historischen Gründe für die Bevorzugung von Sennerinnen gegenüber ihren männlichen Arbeitskollegen? Die Sennerinnen arbeiteten sauberer, was unter anderem die Reinhaltung der Melkkübel und Milchgefäße anbelangte, sie kosteten bei weitem nicht so viel, arbeiteten also „billiger“, und hielten sich hauptsächlich auf kleineren Almen mit relativ geringen Bestoßzahlen (höchstens 15 bis 20 Kühe) auf.
Im ersten Band von „Vergessene Zeugen“ beschäftigen Sie sich mit Männern und Buben, im zweiten Band mit Frauen und Mädchen bei der landwirtschaftlichen Arbeit. Warum die Trennung nach Geschlechtern?
Um in aller Deutlichkeit die Mehrfachbelastung von Bergbäuerinnen und Kleinhäuslerinnen im Alpenraum aufzuzeigen. Das weibliche Geschlecht war früher ja nicht nur mit Haushalt, Kochen und Kindererziehung voll ausgelastet, sondern musste auch im Außenbereich auf den Feldern und Wiesen ihren „Mann“ stellen.
So hat meine Großmutter während des Zweiten Weltkriegs allein auf dem Bergmahd gearbeitet, schwere „Buren“ und sperrige „Stangger“ getragen. Nach neueren Untersuchungen hätten die Frauen im Alpenraum überhaupt zwei Drittel der anfallenden Arbeiten verrichtet. Besonders berührt haben mich als Sellrainer die dort ansässigen Stadtwäscherinnen, die bis in die 1970er-Jahre neben ihrer Tätigkeit in der Berglandwirtschaft Innsbrucker Haushalten und Gasthöfen die Schmutzwäsche gewaschen haben.
Haben Sie selbst auch einmal auf Almen gearbeitet?
Nein, aber ich musste als einziger Sohn am elterlichen Kleinbauernhof („auf der Platte“) in der Gemeinde Sellrain mitarbeiten. Als besonders anstrengende Arbeit blieb mir neben der Bergheugewinnung im steilen Gelände vor allem das Mistauflegen bzw. Mistführen in Erinnerung. Unser Nebenerwerbsbetrieb bestand ungter anderem aus einem steilen Bergmahd am „Stickelberg“ und aus einer steinig-wässrigen Wiese am reißenden Seigesbach (der zuletzt 2015 wütete und große Flurschäden verursachte) mit dem bezeichnenden Flurnamen „Lochmure“.
Über das karge Almleben haben mir meine direkten männlichen Vorfahren erzählt. Während mein Vater Alois Jäger jun. (1938–1998) in den 1950er-Jahren mehrere Sommer als Hirtenbub auf der Längental-Alm oberhalb von Lüsens verbrachte, musste mein Großvater Alois Jäger sen. (1911–1992) als Viehhirte in den schwierigen 1930er-Jahren sogar vorübergehend dem kargen Sellraintal den Rücken kehren und auf die Kasten-Alm ins Schwarzwassertal (Außerfern) ausweichen, um in dieser wirtschaftlich schlechten Zeit eine Saisonarbeit zu finden.
Sie sind Bibliothekar an der Universität Innsbruck am Institut für Translationswissenschaft. Könnten Sie auch zwischen Rindern und Menschen „dolmetschen“?
Ich verstehe mich als Tierliebhaber mit Haus- und Nutztieren ganz allgemein gut – egal, ob es sich um die Katze meiner Schwester Manuela oder um die Rinder im Stall bzw. auf der Alm handelt. Einmal war ich meinem Großvater, der angeblich sogar das Vieh besser als die Menschen kannte, beim „Kälbern“ behilflich. An dieses einmalige Erlebnis mit dem frisch auf die Welt gekommenen „platschnassen“ Kalb kann ich mich bis heute erinnern. Dasselbe gilt auch für jenen denkwürdigen Tag, als mir mein Großvater ein Goaßkitz (Geißkitz) ins Bett getragen hat, mit dem ich sozusagen „simultan“ kommunizieren musste.
Einen besonderen Bezug hatte ich immer zu unseren zur „Sommerfrische“ nach Lüsens gebrachten Kühen, die meinen Vater und mich nach Zuruf ihrer Namen (z. B. „Perle“, „Speik“, „Taube“, „Tulpe“, „Reblaus“) sofort an unseren Stimmen erkannten.
Ihre Bücher sind reich bebildert. Wie kam Ihr umfassendes Bildarchiv zustande?
Schon während meiner Kindheit und Jugend sammelte ich Ansichtskarten und Postkarten. Im Laufe der Zeit habe ich systematisch damit begonnen, neben meinen Sellraintal-Bildern auch alte Ansichtskarten zum Thema Almen und Berglandwirtschaft in Tirol zu sammeln. Auf diese Weise kamen im letzten Vierteljahrhundert Tausende Karten zusammen. Ich brauche ständig neue Bilder als Illustrationen für meine Bücher (Tirolensien) bzw. für meine Beiträge in der Fachzeitschrift „Der Alm- und Bergbauer“ oder für den „Tiroler Bauernkalender“.
Als gebürtiger Sellraintaler befindet sich Ihre Lieblingsalm vermutlich im Sellraintal?
Ich bin mit meiner Frau Karin und meinem Sohn Bernhard in der Freizeit gerne auf den Sellrainer Almen unterwegs, wo ich das überwältigende Gefühl habe, dem Himmel näher zu sein. Neben der oberhalb von Haggen zu Fuß leicht erreichbaren Sonnberg-Alm in der Gemeinde St. Sigmund im Sellrain und der Almind-Alm im äußeren Fotschertal gehört die unterhalb vom Windegg gelegene Seiges-Alm (von althochdeutsch „senges“ = Bodensenke, Geländevertiefung) zu meinen Lieblingsalmen auf Sellrainer Gemeindegebiet.
Beim sogenannten „Seiges“, wie die Einheimischen sagen, handelt es sich erfreulicherweise noch um eine bewirtschaftete Alm. Vor allem der dort erzeugte Graukäse ist ein Genuss und hat mir bei meiner Gewichtsabnahme von 108 auf 76 Kilogramm sehr geholfen. Mein tägliches Frühstück besteht inzwischen nur mehr aus Tiroler Graukäse, Tomaten, Zwiebel und Dinkel-Vollkornbrot. Gerade diese traditionelle fettarme Alm- und Bergbauernkost kann wesentlich zu einer gesunden, ausgewogenen Ernährung beitragen.
Georg Jäger, geboren 1963 in Innsbruck, entstammt einer kleinbäuerlichen Familie aus dem Sellraintal und interessierte sich schon immer für die Arbeit der Bergbauern und Kleinhäusler. Er studierte Geografie und Geschichte an der Universität Innsbruck (1985 Sponsion, 1989 Promotion, 2004 Habilitation). Seit 1994 arbeitet er hauptberuflich als Bibliothekar an der Universität Innsbruck. Zwischen 2007 und 2017 war er Schriftleiter der „Tiroler Heimatblätter“. Georg Jäger lebt in Arzl bei Innsbruck und verbringt seine Wochenenden in Sellrain. Sein dreibändiges Werk „Vergessene Zeugen des Alpenraums“ erschien im Kral Verlag.
Band 3: Auf der Alm und im Gamsgebirge, ISBN 978-3-99024-958-1, Preis: 29,90 Euro, 454 Seiten
- Bildquellen -
- Alm Sennerin Kitzbühel BUCH S. 19 Links: Franz J. Angerer, Kitzbühel/Bildarchiv Georg Jäger
- Foto02 Jäger Georg 58 Jahre Alt Am Besinnungsweg In Sellrain 30. Mai 2021: Privat
- Alm Sennerin Viehhirten Lappachalm Buch S. 131 Unten: Bildarchiv Georg Jäger