Über erschossene Kühe und frisches Geld

Arsen Didur, geschäftsführender Direktor des ukrainischen Milchindustrieverbandes, im Agra-Europe-Gespräch über die Folgen des russischen Angriffskrieges auf die Milcherzeugung, den immensen Investitionsbedarf in der Branche und seine Hoffnung auf die Zeit nach dem Krieg.

Herr Didur, Sie sind der Geschäftsführer des ukrainischen Milchindustrieverbandes. Welche Unternehmen vertreten Sie genau?
DIDUR: Unser Verband hat 53 Mitgliedsunternehmen. Die meisten von ihnen sind Molkereien, die zusammen 70 Prozent des professionellen Milchmarktes in der Ukraine beliefern. Es gibt einige Firmen, die Molkereimaschinen und -zutaten herstellen. Auch Händler von Milchprodukten gehören zu unserer Vereinigung. Neuerdings sind zudem einige größere Milchviehbetriebe auf der Mitgliederliste zu finden.

Der russische Angriff auf die Ukraine liegt nun schon über ein Jahr zurück. Wie sehr sind Sie und Ihr Umfeld vom Krieg betroffen?
Es gibt in der Ukraine so gut wie niemanden, der nicht vom Krieg betroffen ist. Meine persönliche Situation sieht folgendermaßen aus: Meine Mutter hält sich im russisch besetzten Gebiet auf, viele meiner Verwandten leben in Saporischschja, das ständig unter Raketenbeschuss steht. Mein Sohn arbeitet im Norden der Ukraine. Dort gehören regelmäßige Luftangriffe zur Tagesordnung. Entsprechend groß sind die Anspannung und der Stress.

„Es gibt in der Ukraine so gut wie niemanden, der nicht vom Krieg betroffen ist.“

Russlands Angriffe haben im letzten Winter zu großen Teilen auf die Energieinfrastruktur in Ihrem Land abgezielt. Die Molkereien brauchen viel Energie für die Milchverarbeitung. Inwieweit hat der Krieg deren Arbeit eingeschränkt?
Die ersten Angriffe auf unsere Energieinfrastruktur waren ein Schock. Viele Molkereien mussten ihre Arbeitsweise umstellen. Technologische Prozesse mussten an die zeitlich begrenzte Energieversorgung angepasst werden. Die ukrainischen Energieversorger hatten dafür einen speziellen Zeitplan entwickelt. Oftmals war es daher notwendig, dass unsere Mitarbeiter Nachtschichten einlegen mussten. Viele Molkereien konnten ihre Produktion nur aufrechterhalten, indem sie zusätzlich teure Dieselgeneratoren einsetzten. Viele Unternehmen erhielten diese Generatoren dankenswerterweise von EU-Organisationen und Unternehmen.

Waren oder sind Produktionsstätten von Mitgliedern des Verbandes unter russischer Besatzung?
Die meisten der Molkereien, die dem ukrainischen Milchindustrieverband angehören, befinden sich in den zentralen, westlichen und nördlichen Teilen des Landes. Wenn wir nur von unseren Mitgliedsunternehmen sprechen, gab es lediglich eine Molkerei in der Stadt Kupjansk im Oblast Charkiw, die in den besetzten Gebieten lag. Glücklicherweise wurde dieser Teil des Landes von unseren Streitkräften befreit. Allerdings wird diese Gegend immer noch beschossen.

Wie gehen die Unternehmen mit den Kriegshandlungen und Angriffen der Russen um? Was ist mit dem Personal?
Einigen unserer Unternehmen ist es gelungen, ihre Anlagen und das Personal an sicherere Orte innerhalb der Ukraine zu verlagern. Einige Molkereien arbeiten nun an den neuen Standorten im Westen der Ukraine weiter. Andere Molkereien, die nicht Mitglied unserer Molkereivereinigung sind und sich in den gegenwärtig besetzten Gebieten befinden, wurden zum Teil gewaltsam auf russische Eigentümer übertragen. Viele von ihnen wurden auch geplündert und zerstört.

Es häufen sich die Berichte ukrainischer Milchbauern, dass sie aufgrund der Kriegsumstände deutlich weniger Milch produzieren können. Viele Betriebe sollen aufgrund des Krieges ihre Herden verkleinert oder sogar ganz aufgegeben haben. Bekommen die Molkereien noch genügend Rohmilch zur Verarbeitung?
Ja – es wird weniger Milch bei unseren Verarbeitern angeliefert. Letztes Jahr wurden in der Ukraine in Summe noch 7,7 Mio. Tonnen Milch produziert. Davon wurden nur 2,7 Mio. Tonnen von industriellen Milchviehbetrieben erzeugt. Die weitaus größere Menge – etwa 5 Mio. Tonnen – wurde in kleinen bäuerlichen Betrieben ermolken. Ein Jahrzehnt zuvor waren die Mengen um bis zu 50 Prozent höher gewesen. Viele Betriebe wurden vom russischen Militär zerstört, die Kühe erschossen oder verbrannt. Im Jahr 2022 hat die Ukraine so 13 bis 15 Prozent ihres Milchkuhbestandes verloren. Diese Verluste betreffen in erster Linie die kleinen „Hinterhofbetriebe“, aber auch die industrielle Erzeugung. Es wird also weniger Milch produziert. Gleichzeitig haben aber bekanntlich Millionen von Menschen die Ukraine verlassen, sodass der Markt ebenfalls geschrumpft ist. Unterm Strich gibt es genug Milch zum Verarbeiten.

Vertreter der ukrainischen Landwirtschaft berichteten zu Beginn des Krieges in Brüssel von einem großen Mangel an Diesel. Kann der Transport von den Milcherzeugern zu den Molkereien sichergestellt werden?
Wir hatten dieses Problem in den ersten Monaten des Krieges. Aber dann wurden dank gemeinsamer Anstrengungen von Wirtschaft und ukrainischer Regierung Entscheidungen getroffen, die die Lage stabilisierten. Jetzt gibt es genügend Diesel und keine Probleme mit der Milchlieferung an die Molkereien. Allerdings gibt es auch hier immer wieder traurige Ereignisse. Erst vor Kurzem wurden im Nordosten der Ukraine der Fahrer und der Verlader eines Milchtransporters durch den Angriff mit russischen Mörsergranaten getötet.

Verzeihen Sie den harten Schnitt. Sie haben darauf hingewiesen, dass es neben den vergleichsweise großen ukrainischen Milchviehbetrieben auch viele Subsistenzbetriebe gibt. Welche Rolle spielen diese Kleinstbetriebe bei der Versorgung der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten mit Lebensmitteln?
In der Ukraine werden 65 Prozent der gesamten Milch von Subsistenzbetrieben produziert, also von Menschen, die einzelne Kühe halten. Nur 10 Prozent dieser Milch werden an Molkereien verkauft. Die in den ländlichen Haushalten erzeugte Milch wird für den Eigenbedarf verwendet und auf den lokalen Märkten als Rohmilch, hausgemachter Hüttenkäse, Butter und dergleichen verkauft. Jedes Jahr wird die Zahl der Familien, die Kühe als Subsistenzbetrieb halten, aber kleiner. Für viele junge Menschen ist diese Arbeit nicht mehr attraktiv. Nichtsdestoweniger handelt es sich potenziell um eine große Ressource an Rohmilch, die der Milchverarbeitung zugeführt werden könnte, vorausgesetzt die Qualitätsstandards werden eingehalten. Die bessere Organisation von Familienbetrieben ist eine Aufgabe, mit der die Ukraine vor dem Krieg begonnen hat, und diese werden wir auch nach dem Krieg weiterführen.

Derzeit stehen zahlreiche Frauen und Männer in der Ukraine als Soldaten im Krieg, um ihr Land gegen Russland zu verteidigen. Haben die Molkereiunternehmen noch genügend Personal?
Es gibt besondere staatliche Garantien für das Schlüsselpersonal in wichtigen Unternehmen. Dazu gehören auch die Molkereien. Das Schlüsselpersonal arbeitet also weiter und wird aktuell noch nicht eingezogen.

Wie bewerten Sie den Exportmilchmarkt? Hilft die Aussetzung der EU-Zölle auf ukrainische Agrarprodukte?
Wie bereits erwähnt gibt es durch den geschrumpften Inlandsmarkt aktuell genug Milch im Land. Vergangenes Jahr gab es sogar Milch im Überfluss, und die Exporte an Butter, Magermilchpulver, Molke und Käse konnten zulegen. Wir werden hier nicht müde zu wiederholen, dass wir der EU für die Entscheidung zur Abschaffung der Steuern und Zölle auf ukrainische Waren und ihre enormen Anstrengungen zur Erleichterung des ukrainischen Milchhandels mit der EU sehr dankbar sind. Eine bedeutende Unterstützung für unsere Unternehmen.

„Unsere Betriebe benötigen dringend frisches Kapital, idealerweise aus dem Ausland.“

Welche Art von Unterstützung brauchen die Molkereien in der Ukraine aktuell am meisten?
Was unsere Molkereien jetzt dringend brauchen, ist der Zugang zu preiswertem Geld zur Finanzierung von Investitionen. Die vom Staat vorgeschlagenen Darlehenskonditionen sehen aktuell einen Zinssatz von mehr als 20 Prozent vor. Unsere Regierung hat zwar neue Formen der finanziellen Unterstützung für Unternehmen angekündigt, allerdings erfüllen die Molkereien die erklärten Förderbedingungen nicht. Die Finanzmittel, die gegenwärtig zur Verfügung stehen, reichen bestenfalls aus, um die Betriebskosten zu decken. Investitionen in die Modernisierung der Anlagen sind aktuell kaum möglich. Damit unsere Betriebe den modernen Anforderungen weiterhin gerecht werden können, benötigen wir dringend frisches Kapital, idealerweise aus dem Ausland.

Wie sieht es mit der ukrainischen Landwirtschaft insgesamt aus?
Unsere Landwirte brauchen ebenso dringend Hilfe, etwa bei der Räumung ihrer Felder. Gegenwärtig müssen etwa 139.000 Quadratkilometer Nutzfläche von Minen und anderen nicht explodierten Kampfmitteln befreit werden. Doch es mangelt an den notwendigen Fachleuten. Einige Staaten haben bereits ihre Hilfe zugesagt, und wir hoffen, dass sich weitere Länder anschließen werden.

Blicken Sie trotz der verheerenden Umstände hoffnungsvoll in die Zukunft?
Trotz der regelmäßigen Raketenangriffe, der alltäglichen Gefahren und der wirtschaftlichen Schäden glaube ich, dass die Landwirtschaft und unsere Milchwirtschaft überleben werden.

Wo sehen Sie für den ukrainischen Agrarsektor das größte Potenzial?
Ich denke, dass sich die ukrainische Landwirtschaft sehr schnell zum Nutzen der gesamten Wirtschaft entwickeln wird. Wir sollten uns aber darauf konzentrieren, dass die Flächen nicht nur für den Anbau von Feldfrüchten und deren Export genutzt werden. Vielmehr sollten wir die pflanzlichen Erzeugnisse zum Nutzen der eigenen Landwirtschaft selbst weiterveredeln. So kann gerade die Milchwirtschaft einen Mehrwert generieren. Dafür müsste dem Sektor aber auch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Milchverarbeitung gewinnt an Attraktivität. Es gibt viele Gründe, hier zu investieren und die ukrainische Milchwirtschaft auszubauen.

Ihr Heimatland hat seit etwa einem Jahr den Status als EU-Beitrittskandidat. Welche Hoffnungen verbinden Sie damit?
Es wird kein einfacher Weg. Die EU-Mitgliedschaft wird die ukrainische Milchwirtschaft aber näher an moderne Technologien heranführen. Ich bin zudem fest davon überzeugt, dass es uns neue Möglichkeiten eröffnen wird. Die Zusammenarbeit zwischen ukrainischen und europäischen Milchunternehmen würde durch einen Beitritt zur EU einen gegenseitigen Nutzen entfalten.

 

- Bildquellen -

  • Arsen Didur: Ukrainischer Milchindustrieverband
- Werbung -
AUTORRed. CW
Vorheriger ArtikelBerliner Wolfsgipfel: So wird Haltung von Weidetieren ein Auslaufmodell
Nächster ArtikelHorsch eröffnet großes Werk in Brasilien