Die Bahnstrecke zwischen St. Pölten und Wien ist der am meisten befahrene Streckenabschnitt Österreichs. Etwa 550 Personen- und Güterzüge verkehren üblicherweise tagtäglich auf den insgesamt vier Gleisen, welche die Bundeshauptstadt mit den Landeshauptstädten von Niederösterreich und Oberösterreich bis nach Vorarlberg verbinden. Seit dem verheerenden Hochwasser Mitte September ist damit jedoch Schluss.
Auf der „alten“ Zugstrecke durch den Wienerwald herrscht durch Murenabgänge seither ein eingleisiger Betrieb. Die erst 2012 eröffnete „neue Weststrecke“ durch das Tullnerfeld ist gänzlich gesperrt. Auf dem Abschnitt wurden Gleiskörper unterspült, Weichenantriebe beschädigt und die Strominfrastruktur zerstört. Der Bahnhof Tullnerfeld stand noch Tage nach der Sintflut unter Wasser. Besonders stark in Mitleidenschaft gezogen wurden der Atzenbrugger Tunnel zwischen Tullnerfeld und St. Pölten und der Lainzer Tunnel, der die Strecke mit dem Bahnhof Wien-Meidling verbindet.
„Wir müssen leider damit rechnen, dass die Aufräumarbeiten und der Wiederaufbau mehrere Monate dauern werden“, erklärt Judith Engel, zuständige Vorständin der ÖBB Infrastruktur AG. Der entstandene Schaden betrage laut Engel „mehrere hundert Millionen Euro“. Entsprechend sei noch nicht abschätzbar, ob noch heuer eine Wiederaufnahme des Zugverkehrs möglich sei.
Bis zu 800 Unternehmen betroffen
Immerhin: Ab 10. Oktober wollen die ÖBB auf der alten Strecke durch den Wienerwald den zweigleisigen Betrieb wiederaufnehmen. „Hundertprozentig können wir das aber erst nach den Messfahrten sagen“, so Engel. Denn Sicherheit habe „oberste Priorität“. Derzeit können den Streckenabschnitt jedenfalls maximal 150 Züge pro Tag passieren. Bei zwei Gleisen wären wieder 300 Züge pro Tag möglich, was laut den ÖBB wieder „dem Takt von 2012“ entspräche.
Für die Transportlogistik im Land bleibt all dies natürlich nicht ohne Folgen. „Der Güterverkehr bleibt leider massiv eingeschränkt“, räumten auch die ÖBB vergangene Woche noch ein. Die zuständige ÖBB-Tochter Rail Cargo versucht diesen vorerst über die Verbindungen über Semmering und Phyrn umzuleiten. Der zweitgrößte Gütertransporteur auf der Weststrecke, die Raaberbahn Cargo, vermeldete indes bereits einen Umsatzeinbruch von 60 Prozent pro Woche. Die WK Niederösterreich bezifferte gegenüber der Austria Presse Agentur die Anzahl an von den Behinderungen betroffenen Unternehmen „mit 600 bis 800“, darunter auch einige aus dem Agrarsektor.
Lastkraftwagen sind nun gefragt
Die Einschränkungen in der Logistik treffen die Landwirtschaft und ihre vor- und nachgelagerten Wirtschaftszweige zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Bekanntlich steht dieser Tage – wo es die Bodenbedingungen überhaupt schon zulassen – auf den Feldern der Herbstanbau an. Zusätzlich gilt es, die noch stehenden Ackerkulturen zu ernten und der Verarbeitung zuzuführen. Bei Österreichs größtem Händler für Agrargüter und Betriebsmittel, der Raiffeisen Ware Austria (RWA), gibt man auf Nachfrage der BauernZeitung Entwarnung. Zwar standen in manchen Regionen „ganze Standorte und Märkte unter Wasser, teilweise auch Getreidelager und Silos“. Mittlerweile seien aber alle Lagerhaus-Filialen wieder geöffnet. Lediglich einige Siloanlagen seien noch nicht in Betrieb. Die Ernteannahme laufe dementsprechend aber „großteils ohne Einschränkungen“.
Auch in den Bereichen Betriebsmittel, Saatgut und landwirtschaftliche Erzeugnisse gäbe es „keine großen Auswirkungen“. „Die Landwirtschaft wird wie immer mit den benötigten Waren versorgt“, beruhigt man in der RWA-Zentrale in Korneuburg. Dies treffe auch auf die Futtermittel-Tochter Garant zu. Diese greife auf einen „spezialisierten Fuhrpark“ zurück. Auch die kurzzeitig ausgesetzte Rohstoffanlieferung per Schiffen über die Donau sei wieder in Betrieb. Der Tenor lautet: „Aufgrund der guten Bevorratung gibt es keine Engpässe in der Produktion.“ Sehr wohl beobachte man derzeit aber bei der Zulieferung per Lkw „sehr knappe Transportkapazitäten“.
„Die Landwirtschaft wird wie immer mit den benötigten Waren versorgt.“
Ähnliches verlautet aus der Firma Jungbunzlauer. Das Werk des internationalen Biotechnologieunternehmens in Pernhofen im Weinviertel (NÖ) blieb selbst von größeren Hochwasserschäden verschont. Die Nassmaisverarbeitung laufe daher „saisonüblich“. Sehr wohl sei beim Hersteller von Zitronensäure und Xanthan ein gewisser „Erntestress“ seitens der Landwirte zu spüren. „Der Anlieferdruck bei Nassmais war in den vergangenen Wochen hoch“, informierte ein Mitarbeiter am Telefon. Zugleich sei es derzeit „etwas schwerer, Lkw-Fuhren ins Werk zu bekommen“.
Sorgenkind Zuckerrübe
Einer von vielen Gründen für die beobachtete Verknappung bei den Lkw-Kapazitäten ist wohl die am Wochenende in den Zuckerfabriken Tulln und Leopoldsdorf angelaufene Rübenkampagne der Agrana. Diese musste witterungsbedingt um eine Woche verschoben werden, wie die BauernZeitung berichtete. Wo die Bodenbedingungen das Roden zuließ, sah man sich plötzlich mit einer „logistischen Herkulesaufgabe“ konfrontiert. Etwa in Oberösterreich. Dort werden üblicherweise 160 Güterwaggons pro Tag mit Rüben befüllt. Nun bräuchte es dafür 320 Lkw-Fuhren täglich.
Simak: „Grundsätzlich werden in Österreich etwa die Hälfte der Rüben mit der Bahn angeliefert.“
„Das wäre wirtschaftlich ein Wahnsinn“, betont Markus Schöberl, Direktor der Rübenbauern. Daher wird laut Schöberl derzeit nur gerodet, was wirklich abtransportiert und verarbeitet werde. Die Gebietsbetreuer der Agrana koordinieren das vor Ort mit den Rodegemeinschaften. Zu Wochenbeginn gab die OÖ Rübenbauerngenossenschaft außerdem vorsichtig Entwarnung. Gemeinsam mit den ÖBB und Agrana könne man ab nächster Woche wieder mit rund 80 Prozent der benötigten Güterwaggons rechnen. Auch Agrana-Pressesprecher Markus Simak erwartet mit Aufnahme des zweigleisigen Bahnbetriebes am 10. Oktober eine Beruhigung in Sachen Logistik. „Grundsätzlich werden in Österreich etwa die Hälfte der Rüben mit der Bahn angeliefert“, berichtet Simak, um die Bedeutung der Bahnverbindungen hervorzustreichen. In der Kampagne 2023/24 entspricht dies einer Menge von 1,3 Millionen Tonnen Rüben.
500 Hektar Totalschäden
Vorerst noch nicht abschätzbar sei laut Markus Schöberl, wie viel Rübenanbaufläche dem Hochwasser zum Opfer gefallen ist: „Nach Rücksprache mit der Hagelversicherung gehen wir derzeit von einem Totalausfall auf 500 Hektar aus.“ Es könnten aber durchaus noch mehr werden. Schöberl: „Es gibt Gegenden, da standen die Rüben vorige Woche noch im Grundwasser.“ Was das für die Qualitäten bedeutet, sei ebenso unklar. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich faulende Rüben, welche im Roder nicht separiert werden können, im Spätherbst auf die Lagerfähigkeit des gesamten Ernteguts in den Mieten auf den Rübenplätzen auswirkt.
- Bildquellen -
- Hochwasser Tullnerfeld: ÖBB/Mayer