Das Internet und die Gesellschaft – oder was macht Social Media mit den Menschen? Dieser Frage nachzugehen war Ingrid Brodnig schon sehr früh ein Anliegen. Mittlerweile ist die 40-jährige Publizistin eine anerkannte Expertin für die Auswirkungen von Digitalisierung auf die Gesellschaft und Debattenkultur. Sechs Bücher hat sie bereits veröffentlicht. Diese beschäftigen sich mit Hass, Lügen und Macht im Netz sowie Verschwörungstheorien, Fake News und der Anonymität in den Weiten des Internets.
Eine „Quatsch-Debatte“, die mit einer Wurst anfing
„Wider die Verrohung“ ist der Titel ihres jüngsten Buches. Zur Idee dafür sei es gekommen, „weil es so viele Quatsch-Debatten im Internet gibt“, meinte Brodnig bei einem Diskussionsabend in Linz. „Aber eigentlich hat alles mit einer Wurst begonnen“, so Brodnig.
“Früher gab es auch mal eine aufgeheizte Stimmung am
Wirtshaus-Stammtisch.
Heute werden die ärgsten Kommentare online gestellt” – Ingrid Brodnig
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung überarbeitete gerade ihre allgemeinen Empfehlungen zum Fleischkonsum, als Deutschlands auflagenstärkste Zeitung „Bild“ davon Wind bekam und daraufhin reißerisch mit „Nur noch eine Wurst pro Monat für jeden!“ titelte. Bebildert wurde der Artikel mit der im Nachbarland beliebten Currywurst. Laut Brodnig sei das „ein Paradebeispiel für das emotionale Aufladen eines Themas“, dem eine Flut aufgeregter Kommentare folgte. „Früher gab es auch mal eine aufgeheizte Stimmung am Wirtshaus-Stammtisch. Das hat aber außerhalb der Gaststube niemand mitbekommen. Heute werden die ärgsten Kommentare online gestellt“, zeigte sie auf.
Moralisch-emotionale Sprache erhöht Chancen
Wer im Internet Erfolg im Sinne von Reichweite haben will, der sollte sich also kein Blatt vor den Mund nehmen. „Moralisch-emotionale Sprache erhöht die Chance, online noch mehr geklickt und geteilt zu werden“, so die Expertin. „Jedes derart aufgeladene Wort bringt um zwölf Prozent mehr Reichweite.“ Das habe eine Analyse von politischen Social-Media-Postings bereits vor der US-Wahl im Jahr 2016 ergeben. „Man muss daher leider sagen, dass sich so eine Eskalation, eine Zuspitzung, auszahlt. So sind leider ganz viele Diskussionen heute, da wird nicht mehr differenziert, weil es mehr Aufwand wäre und sich weniger lohnt.“ Dabei sei das Zeit, in der man sich besser mit anderen, wichtigeren Themen beschäftigen könnte. Brodnig: „Ich glaube, dass wir als Demokratie schon ein ernsthaftes Problem damit haben, dass wir uns für so viele Quatsch-Debatten Zeit nehmen.“
„Gruppengefühle entstehen sehr schnell und lassen sich auch rasch aufladen, etwa mit Feindseligkeit.“ – Ingrid Bodnig
Die gebürtige Grazerin nannte drei häufig genutzte Methoden der Eskalation: Zum einen sei die Beleidigung ein „funktionierendes Kommunikationsmittel“, indem sie Aufmerksamkeit bringe und vom Thema ablenke. Brodnig nannte US-Präsident Donald Trump als bekanntes Beispiel für jemanden, der sich gerne dieser Taktik bedient. Statt inhaltlich zu antworten, habe er etwa bei einer Wahlkampfveranstaltung einen Reporter mit körperlicher Beeinträchtigung nachgeäfft. Dieser hatte ihn auf falsche Behauptungen hingewiesen. Brodnig: „Mit so einem Verhalten stellt Trump Kompetenz und Redlichkeit von Menschen in Abrede. Anstatt in einer Sachfrage zu antworten, attackiert er die Glaubwürdigkeit des Gegenübers und lenkt einfach vom Thema ab.“
Methode Nummer zwei bediene das „Wir gegen die“-Gefühl. „Gruppengefühle entstehen sehr schnell und lassen sich auch rasch aufladen, etwa mit Feindseligkeit.“
Zum Dritten sei es die Wut, auf die aus taktischen Gründen gesetzt werde. „Wut ist eine effektive Emotion. Sie lässt einen aktiv werden. Influencer haben dafür einen eigenen Begriff, nämlich ‚Rage Bait‘“, so Brodnig und nannte ein simples Beispiel: Ein Influencer trinkt einen Espresso und nennt ihn „Expresso“. Das erzeuge zig Reaktionen – von korrigierenden Kommentaren bis hin zu Beschimpfungen. „Mehr Aktionen, mehr Geld, so lautet die einfach Rechnung.“
Auf Empathie verweisen und Gemeinsames finden
Wer die Strategien kenne, mit denen Rhetorik bewusst als Waffe eingesetzt wird, der könne sich auch dagegen rüsten, ist Brodnig überzeugt. So empfiehlt sie etwa, Personen an die eigene Empathie zu erinnern und sie dadurch zu erreichen. „In einer Studie hat sich gezeigt, dass nach einem direkten Appell acht Prozent der Personen ein rassistisches Posting wieder gelöscht haben.“ Experimente mit Fußballfans hätten gezeigt, dass das Gefühl von Zugehörigkeit zu einem besseren, sozialeren Verhalten einzelner Menschen führt. Daher sollten in der Rhetorik zuerst Gemeinsamkeiten angesprochen werden.
Brodnig forderte aber auch vermehrte rechtliche Konsequenzen, die ebenfalls etwas bewirken können. „Letztlich gilt es, jede einzelne Krücke zu nutzen, um wieder besser aufeinander zuzugehen.“

Zur Person
Ingrid Brodnig ist Expertin für die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft und
Debattenkultur. Die Journalistin und Autorin hält Vorträge und Workshops und gibt Tipps, wie man auf Phänomene wie Hassrede oder Desinformation reagieren kann. Für ihre Arbeit wurde sie bereits mehrfach ausgezeichnet.
Mit falschen Behauptungen ans Ziel
Im Kapitel „Verzerrung der Realität“ erläutert Ingrid Brodnig, wie falsche Behauptungen gezielt als politisches Instrument eingesetzt werden. Dabei wird etwa die grundsätzliche Bereitschaft zum Zweifeln, angefeuert auch durch die Möglichkeiten von Künstlicher
Intelligenz, genutzt. Die Folge sind noch größere Verunsicherung – eines der Ziele von unseriösen Akteuren. „In vielen politischen Debatten kann Desinformation auch dann schon erfolgreich sein, wenn Menschen das Gefühl haben, sie haben den Durchblick verloren,
denn durch die allgemeine Verwirrung werden die Fakten in den Hintergrund gedrängt“, so Brodnig. Sie weist auch darauf hin, dass die eigene politische Überzeugung Falschmeldungen wie ein „Schmiermittel“ durchrutschen lässt, weil man nur oberflächlich über deren Glaubwürdigkeit nachdenkt. Viele würden jenen falschen Überschriften eher glauben, die sich mit ihren eigenen Ansichten decken.
Wider der Verrohung

Ingrid Brodnig liefert Strategien und Tipps, wie man auf Emotionalisierung und Fake News besser antworten kann. Erschienen im Verlag Brandstätter,
176 Seiten, 22 Euro.
ISBN 978-3-7106-0812-4
- Bildquellen -
- Ingrid Brodnig: Gianmaria Gava
- Buchtipp: Brodnig/Brandstätter Verlag
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