Krisen auch als Chancen sehen

Sechs Betriebe aus Wilhelmsburg (Bezirk St. Pölten-Land, NÖ) verarbeiten ihre Milch in der Hofmolkerei am Betrieb Bertl. Vermarktet werden die Milch-, Joghurt- und Käsespezialitäten unter der gemeinsamen Marke "Wilhelmsburger Hoflieferanten

Mit Begeisterung sind die Kinder immer wieder dabei, wenn sie im Rahmen der Führung auf dem Betrieb von Johannes Bertl unter fachkundiger Aufsicht seiner Freundin Bettina die Kühe im
Mit Begeisterung sind die Kinder immer wieder dabei, wenn sie im Rahmen der Führung auf dem Betrieb von Johannes Bertl unter fachkundiger Aufsicht seiner Freundin Bettina die Kühe im “5-Stern-Kuhhotel” füttern dürfen. ©BZ/Riegler
Bereits 1995 wurde auf dem Betrieb der Familie Bertl in Wilhelmsburg begonnen, Schulmilch zu produzieren. In mehr als 20 Jahren ist daraus eine eigene Hofmolkerei gewachsen, in der mittlerweile sechs landwirtschaftliche Betriebe unter der Marke “Wilhelmsburger Hoflieferanten” Milch – von Kuh und Ziege – pro Jahr zu Schulmilch, Topfen, Frischkäse, Joghurt, Fruchtjoghurt und gereiftem Käse verarbeiten. Zu kaufen gibt es die Produkte im Rahmen der Schulmilchaktion in rund 100 Schulen und Kindergärten im Umkreis von 30 Kilometern, über Spar, Billa und Merkur in Niederösterreich, Wien und im Nordburgenland sowie im hofeigenen Käseladen.

Betriebskonzept: wachsen oder Spezialisierung

Im Oktober 2015 wurde der Käseladen eröffnet. Neben den hofeigenen Milchprodukten und Käsespezialitäten werden die Erzeugnisse von 15 Partnerbetrieben aus der Region angeboten. ©BZ/Riegler
Im Oktober 2015 wurde der Käseladen eröffnet. Neben den hofeigenen Milchprodukten und Käsespezialitäten werden die Erzeugnisse von 15 Partnerbetrieben aus der Region angeboten. ©BZ/Riegler
“Die Ausgangslage 1994 war ähnlich wie heute”, berichtet Johannes Bertl, der als Geschäftsführer und Käsemeister für die Milchverarbeitung verantwortlich ist. “Durch den EU-Beitritt ist es zu Veränderungen im Milchsektor gekommen. Für unseren Betrieb, der damals noch von Vater Franz und Mutter Antonia geführt wurde, stellte sich die Frage, die Einkommensverluste durch eine Steigerung der Produktion auszugleichen, oder sich nach Alternativen umzusehen.” Ein Schlüsselerlebnis für die Bertls war eine Reise nach Norddeutschland. Dort lernten sie Großbetriebe mit mehr als 500 Kühen kennen, die dennoch um das wirtschaftliche Überleben zu kämpfen hatten. “Da war für uns klar, dass wir einen anderen Weg einschlagen möchten”, so Johannes Bertl. Die Milchproduktion sollte nicht aufgegeben werden, sondern die Wertschöpfung dieser Sparte durch Direktvermarktung gesteigert werden.
Schon damals setzten die Bertls auf Kooperation: Mit Milch, Kakao und Vanillemilch sowie Apfelsaft aus der Region, die gemeinsam mit dem Betrieb der Familie Graßmann produziert und an die umliegenden Schulen und Kindergärten ausgeliefert wurden, fiel 1995 der Startschuss für die “Wilhelmsburger Hoflieferanten”.
“Eine gesunde und ausgewogene Ernährung ist für Kinder besonders wichtig. Deshalb sahen wir für uns in der Weiterentwicklung der Schulmilch eine Chance”, erzählt Johannes von den Anfängen. Gemeinsam mit anderen innovativen Milchproduzenten in Niederösterreich und fachlicher Unterstützung der Landeslandwirtschaftskammer wurde die Arge der NÖ Schulmilchbauern gegründet und an der Entwicklung der rechtlichen und produktionsspezifischen Rahmenbedingungen mitgearbeitet.

Fruchtjoghurt enthält nur heimischen Rübenzucker

Zusammenarbeit aller Generationen: Oma Leopoldine hilft ebenfalls noch im Stall mit. ©BZ/Riegler
Zusammenarbeit aller Generationen: Oma Leopoldine hilft ebenfalls noch im Stall mit. ©BZ/Riegler
Schon drei Jahre später, im Jahr 1998, musste aufgrund steigender Nachfrage der vorerst behelfsmäßig eingerichtete Milchverarbeitungsraum durch die neu erbaute Hofmolkerei ersetzt werden. Damit wurde auch die professionelle Erzeugung von Topfen und Frischkäse – die bisher nur für den Eigenverbrauch produziert wurden – möglich.
2005 gingen die Pioniere aus Wilhelmsburg den nächsten Schritt auf den Handel zu: Mit dem Naturcremigen und Feinbröseligen Bauerntopfen gelang der Einstieg als Lieferant für die Spar-Zentrale St. Pölten.
Eine weitere einschneidende Erfahrung machte Johannes Bertl im Rahmen seiner Ausbildung zum Käsemeister an der Bundesanstalt in Rotholz (Tirol). Bei einer Exkursion zu einem Marmelade-Produzenten wurde die Erzeugung von Fruchtzusätzen für die Joghurterzeugung im Aromalabor vorgestellt. Und wieder war für den Junglandwirt klar: “Künstliche Aromen und Geschmacksverstärker sind nicht unser Weg.”
Am Hof zurück suchte sich Bertl Betriebe der Region, die sich der Erdbeer-, Marillen- und Dirndlproduktion verschrieben haben. In einem aufwendigen Produktentwicklungsprozess wurden die entsprechenden Rezepturen für die Fruchtzusätze – reifere Früchte, ohne künstliche Aromen – verarbeitet. Das Ergebnis sind Frucht-joghurts, die um 30 Prozent weniger Kristallzucker enthalten und daher noch fruchtiger schmecken. Dieser Unterschied von der breiten Masse machte die Fruchtjoghurts der Wilhelmsburger Hoflieferanten auch für den Spar- und REWE-Konzern inte-ressant. Mittlerweile gibt es diese gemeinsam mit sieben Produkten der Ziegenlinie (Frischkäseroulade, Frischkäsebällchen, Schnittkäse) bei Billa und Merkur in NÖ, Wien und im Nordburgenland zu kaufen. “Das ist nur mit innovativen Produkten möglich, die der Handel sonst nirgends bekommt”, weiß Johannes Bertl um die besonderen Herausforderungen. “Das funktioniert nur, wenn man selbst von seinem Produkt überzeugt ist. Der Konsument muss spüren, dass wir voll hinter unseren Produkten stehen.” Die Philosophie der Wilhelmsburger Hoflieferanten ist es, zu 100 Prozent transparent zu produzieren.

Marketing ist, Geschichten zum Produkt erzählen

In Wilhelmsburg werden Kuh- und Ziegenmilch zu hochwertigen Delikatessen veredelt. ©Wilhelmsburger Hoflieferanten
In Wilhelmsburg werden Kuh- und Ziegenmilch zu hochwertigen Delikatessen veredelt. ©Wilhelmsburger Hoflieferanten
Ob Schulkinder, interessierte Konsumenten oder bäuerliche Berufskollegen – die Mitgliedsbetriebe haben gerne eine offene Tür und ein offenes Ohr für Fragen und Anregungen, ganz einfach um Landwirtschaft so zu zeigen, wie sie wirklich funktioniert. Rund 8000 Gäste besuchen pro Jahr den Hof der Familie Bertl, der 2015 auch als Erlebnis- und Genussbauernhof durch die Genussregion Österreich ausgezeichnet wurde. “Unsere Palette an Produkten muss authentisch sein, um so eine emotionale Bindung mit den Konsumenten zu erzeugen”, erklärt Johannes Bertl die Marketingstrategie. Daher wird die Milch der einzelnen Betriebe nicht gemischt, sondern einzeln verarbeitet. Jedes Produkt ist einem Betrieb zuordenbar. Kinder können ihren Geburtstag am Hof feiern und dabei spielerisch den Weg von der Milch bis zum Käse kennenlernen. Auf den Joghurtbechern ist die Kuh Silke zu finden. Mittels QR-Code wird der Konsument auf die Homepage verlinkt, wo er Wissenswertes rund um den Milchbauernhof erfahren kann.
Und weil Innovation nie endet, ist Johannes Bertl bereits mit der nächsten beschäftigt: In einem Pilotprojekt wird derzeit intensiv daran gearbeitet, die bisher übliche Aluminiumplatine am Joghurtbecher durch einen Deckel aus Papier zu ersetzen. Dass dies möglich ist, haben erste Versuche bestätigt. Bis zum nächsten Jahr soll nun die Serienreife erreicht werden.

Ausflugstipp: Wilhelmsburger Hoflieferanten

Ein Geheimtipp sind Ausflüge zu den Wilhelmsburger Hoflieferanten mit Führungen und Erlebnis-Angeboten, die gerne für Bauernbund-, Bäuerinnen- oder Landjugendgruppen auch fachspezifisch gestaltet werden. Um Reservierung wird gebeten. Auch anlässlich der Adventtage öffnen die Wilhelmsburger Hoflieferanten ihre Türen: Von 2. bis 4. Dezember sowie von 9. bis 11. Dezember wird von 10 bis 19 Uhr für vorweihnachtliche Stimmung gesorgt. Höhepunkt bildet am 3. Dezember ein “Radio 4/4” mit dem ORF-Radio Niederösterreich und dem musikalischen Gast Andy Lee Lang. Kontakt: Wilhelmsburger Hoflieferanten, Pömmern 4, 3150 Wilhelmsburg, Telefon 02746/76300, “office@hoflieferanten.at

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